Die Bundesregierung will wegen der türkischen Militäroffensive in Syrien vorerst keine neuen Waffenlieferungen in die Türkei genehmigen. "Vor dem Hintergrund der türkischen Militäroffensive im Nordosten von Syrien wird die Bundesregierung keine neuen Genehmigungen für alle Rüstungsgüter, die durch die Türkei in Syrien eingesetzt werden könnten, erteilen", sagte Außenminister Heiko Maas (SPD) der Bild am Sonntag. 

Laut den Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung ist der Export von Rüstungsgütern an Nato-Partner "grundsätzlich nicht zu beschränken, es sei denn, dass aus besonderen politischen Gründen in Einzelfällen eine Beschränkung geboten ist". Wann und wie die Bundesregierung sich für eine Änderung ihrer Herangehensweise entschieden hat, blieb zunächst unklar. Eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes äußerte sich bisher nicht zu den Einzelheiten und verwies auf den Grundsatz, dass der für Rüstungsexportgenehmigungen zuständige Bundessicherheitsrat geheim tage.

Bereits seit 2016 gelte eine sehr restriktive Linie für Rüstungsexporte an die Türkei, sagte Maas der Zeitung. Allerdings verkauft Deutschland weiterhin im großen Stil Waffen an den Nato-Partner Türkei. Lieferungen an die Türkei machten 2018 mit 242,8 Millionen Euro fast ein Drittel aller deutschen Kriegswaffenexporte aus. In den ersten vier Monaten dieses Jahres erhielt die Türkei Kriegswaffen für weitere 184,1 Millionen Euro. Dabei handelte es sich nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums vom Sommer ausschließlich um "Ware für den maritimen Bereich". In der Rangliste der wichtigsten Empfängerländer steht der Nato-Partner damit wie schon im Vorjahr mit großem Abstand an erster Stelle.

"Es kann kein 'Weiter so' geben"

Die Grünen halten den nun von Maas verkündeten Genehmigungsstopp für nicht ausreichend. "Nach dem völkerrechtswidrigen Angriff der Türkei in Syrien kann es kein 'Weiter so' geben", teilte die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt mit. Der Exportstopp müsse auch für bereits genehmigte Geschäfte gelten. Deutschland dürfe außerdem keine Aufklärungsdaten mehr aus dem Tornado-Einsatz über Syrien und dem Irak bereitstellen. Dazu würden die Grünen in der kommenden Woche einen Antrag in den Bundestag einbringen.

Kritik kam auch von den Linken. "Der EU-Beitrittskandidat Türkei richtet mit seinem Angriffskrieg eine furchtbare humanitäre Katastrophe in der Region an", sagte Fraktionsvize Sevim Dağdelen. Wer jetzt nicht die Ausfuhr von Waffen an das Land stoppe, "macht sich mitschuldig am Völkerrechtsbruch der Türkei".

Neben Deutschland haben auch andere europäische Staaten ihre Rüstungsgeschäfte mit der Türkei beschränkt. Die Niederlande hatten am Freitag mitgeteilt, alle Anträge für Ausfuhrgenehmigungen von militärischer Ausrüstung in die Türkei würden ausgesetzt. "Wir fordern die anderen EU-Mitgliedstaaten auf, dasselbe zu tun", sagte Vizeministerpräsident Hugo de Jonge. Zuvor hatten bereits Finnland und Norwegen angekündigt, ihre Waffenexporte auszusetzen. Auch Frankreich schränkt die Ausfuhr von Waffen in die Türkei ein.

Am Mittwoch hatte die türkische Regierung nach einem Rückzug von US-Soldaten aus dem syrischen Grenzgebiet eine Militäroffensive gegen die Kurdenmiliz YPG im Nordosten Syriens gestartet und damit eine neue Front in dem Bürgerkriegsland eröffnet. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan begründet das Vorhaben der Türkei mit Sicherheitsinteressen: Erklärtes Ziel ist es, die Kurdenmiliz YPG bis 32 Kilometer südlich der Grenze zurückzudrängen. Die Türkei befürchtet ein Erstarken der Kurden jenseits ihrer Südgrenze und damit auch der nach Autonomie strebenden Kurden auf eigenem Territorium. Zudem sollen in dem Grenzgebiet arabische Flüchtlinge aus Syrien angesiedelt werden.

Mehr als 100.000 Menschen auf der Flucht

Die Türkei betrachtet die Kurdenmiliz als Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit als Terrororganisation. Während die PKK auch in den USA und Europa auf der Terrorliste steht, waren die von der YPG angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) ein wichtiger Verbündeter der USA im Kampf gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) in Syrien. Die westlichen Verbündeten des Nato-Partners befürchten wegen der türkischen Offensive nun eine humanitäre Krise und die Stärkung des IS. Seit Beginn der Offensive sind nach Angaben der Vereinten Nationen bereits mehr als 100.000 Menschen aus ihren Städten geflohen.

Allein aus Ras al-Ain sind demnach 65.000 Bewohner geflohen. Die Stadt liegt an einer größeren Verkehrsader zwischen Tall Abjad im Westen und Kamischli im Osten Syriens. Das türkische Verteidigungsministerium meldete am Samstag auf Twitter, der Ort sei von der türkischen Armee erobert worden. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London widersprach dieser Darstellung jedoch: Demnach seien türkische Streitkräfte und ihre Verbündeten zwar in Ras al-Ain, in dem Ort werde aber weiter gekämpft.

Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministerium sind seit Beginn der Offensive 415 feindliche Kämpfer getötet worden. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte sprach von 74 Toten aufseiten des von der YPG angeführten Rebellenbündnisses SDF und von 49 Toten aufseiten der mit der Türkei verbündeten Rebellen. Zudem seien 20 Zivilisten ums Leben gekommen, die meisten davon in Tel Abjad. Die Angaben sind von unabhängiger Seite nur schwer zu überprüfen.

Proteste in Deutschland und Frankreich

Unterdessen gingen in mehreren deutschen Städten kurdische Demonstranten aus Protest gegen die türkische Offensive auf die Straße. Allein in Köln schlossen sich Schätzungen zufolge mehr als 10.000 Menschen einem Protestmarsch an. Dabei forderten die überwiegend kurdischen Demonstranten ein Ende der türkischen Offensive in Nordsyrien und verurteilten das Vorgehen von Präsident Erdoğan. Die Polizei war mit mehreren Hundertschaften vor Ort, um mögliche Auseinandersetzungen mit Anhängern Erdoğans zu unterbinden. Nach Informationen eines Polizeisprechers verlief die Demonstration bislang weitestgehend störungsfrei und friedlich.

Auch in anderen deutschen Städten gab es Proteste. In Frankfurt am Main zählte die Polizei fast 4.000 Teilnehmer. Sie forderten die Bundesregierung auf, politischen Druck auf Erdoğan auszuüben. "Ab heute wird es keine ruhige Minute mehr für diese Bundesregierung geben", sagte ein Redner. Die Polizei warnte die Teilnehmer davor, Symbole der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK oder Bilder des inhaftierten Anführers Abdullah Öcalan zu zeigen. In Hamburg und Hannover demonstrierten etwa 3.000 Menschen. Größere Kundgebungen fanden auch in Bremen, Berlin und Saarbrücken statt.

In der Stuttgarter Innenstadt ist es nach einer Demonstration zu Ausschreitungen gekommen. Nach Angaben der Polizei hatten sich rund 1.000 Menschen zu einer Auftaktkundgebung versammelt. Im Anschluss zogen die Teilnehmer demnach weiter, dabei seien aus der Menge Gegenstände wie Böller auf Einsatzkräfte geworfen worden. Die Polizei nahm mehrere Tatverdächtige vorübergehend fest.

Auch in Frankreich demonstrierten Tausende in mehreren Städten gegen den türkischen Militäreinsatz. In Paris sollen an dem Demonstrationszug durch die Hauptstadt über 20.000 Personen teilgenommen haben, berichtete die französische Nachrichtenagentur AFP unter Berufung auf die Organisatoren.

EU hält an Flüchtlingsabkommen mit der Türkei fest

In der kommenden Woche wird die Militäroffensive in Syrien Thema beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs sein. Die Türkei bewege sich mit ihrem Handeln nicht auf dem Boden des Völkerrechts, sagte der scheidende EU-Kommissar Günther Oettinger im Deutschlandfunk. Das Vorgehen der Türkei sei völlig falsch und durch nichts zu rechtfertigen. Dennoch halte die EU an dem Flüchtlingsabkommen mit der Türkei fest. Man sei vertragstreu und erwarte das auch von Erdoğan.

Die EU hatte mit der Türkei im März 2016 ein Abkommen getroffen, nach dem die Türkei die Flucht in Richtung Europa auf dem See- und Landweg eindämmen soll. Dafür zahlt die EU ihr im Gegenzug über mehrere Jahre hinweg verteilt sechs Milliarden Euro für die Versorgung von Geflüchteten aus Syrien. In der Türkei leben laut Regierungsangaben mittlerweile rund fünf Millionen Flüchtlinge, darunter mehr als 3,6 Millionen Syrer.