Anschlag in Halle:Nur Trauer ist angebracht

Ein Mordanschlag auf eine Synagoge voller Menschen - und selbst an so einem Tag ist es manchen unmöglich, die Polizei einfach arbeiten zu lassen.

Kommentar von Detlef Esslinger

Es war schon immer beschämend, dass in Deutschland jede Synagoge permanent geschützt werden muss, dass es ohne Poller und gepanzerte Türen nicht geht. Am Mittwoch erwies sich das Beschämende als das Lebensrettende, und doch bleibt es ein unfassbar bedrückender Tag, ein Verbrechen, über das Außenminister Heiko Maas zutreffend formuliert, wohin es trifft: "uns ins Herz" - der Mordanschlag eines Rechtsextremisten auf eine Synagoge voller Menschen, an Jom Kippur, in Deutschland; und anschließend auf Passanten. Wer den 100 000 Juden im Land Zuneigung und Solidarität zeigen will, hat vielleicht Zeit, auf dem Weg zu oder von der Arbeit Blumen an der örtlichen Synagoge abzulegen.

Trauer mit den Familien der Toten, Mitgefühl und Zurückhaltung sind zunächst die angemessenen Reaktionen auf eine solche Tat. Doch zugleich ist dies ein Tag, der auf brutalste Art augenöffnend sein muss: welche Hydra der rechtsextremistische Terror inzwischen ist. Die Morde des NSU, der rechtsextremistische Massenmörder vom Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München, der Mord an Walter Lübcke, all die Brandstiftungen in Flüchtlingsheimen, über die schon gar nicht mehr berichtet wird - seit Jahren treten jeweils plötzlich Täter in Erscheinung, die die Sicherheitsbehörden zuvor entweder gar nicht oder kaum auf dem Radar hatten. Schon wahr, diskutiert wird stets nur über die Taten, die passiert sind; nicht über diejenigen, die verhindert wurden. Aber warum passieren so viele?

Was es an einem solchen Tag leider auch immer wieder gibt: Beihilfe aus Naivität, aus Wichtigtuerei. Noch während der Fahndung verbreiteten Menschen auf digitalen Netzwerken ihre Gewissheiten, aus welchem Milieu und mit welchem Motiv die Tat begangen worden ist. Andere posteten das Gerücht, es gebe noch eine Geiselnahme in einem Supermarkt sowie Schüsse in einem Nachbarort.

Die Pseudo-Informierer binden Ressourcen der Polizei

Wissen diese Menschen eigentlich, ahnen sie es wenigstens, dass sie nicht bloß Geplapper und Rechthaberei befördern? Wer am 22. Juli 2016, am Abend des OEZ-Massakers, in München war, der erinnert sich, wozu solch digitales Geschwätz führt. Die Ichweißwas-Twitterei versetzte damals eine Stadt in Panik. Stundenlang hielt sich die Annahme, mehrere Täter zögen durch alle Teile der City, Menschen meinten, Schüsse am Marienplatz wahrzunehmen, es gab Fehlalarme überall. In Halle hingegen war es ein Augenzeuge aus dem Dönerladen, der sich großartig verhielt. Eine TV-Reporterin wollte ihn gleich am Nachmittag locken, etwas zur Herkunft des Täters zu sagen. Weil er nichts Seriöses beitragen konnte, sprach der Mann den so einfachen wie nachahmenswerten Satz: "Ich möchte keine falschen Informationen streuen."

Was die Pseudo-Informierer zudem anrichten: Sie binden Ressourcen der Polizei. Die muss ihrem Geschwätz ja nachgehen, zumindest telefonisch; oder sie schickt gleich ein SEK. Auf diese Weise spielen die Pseudo-Informierer jedem Täter in die Hände, die meisten vermutlich, ohne sich dessen im Klaren zu sein. Womöglich sind Polizisten für sie nur das, was man auf Fotos sieht: Gestalten mit Helm und schusssicherer Weste, die solch eine Lage schon ihrer Rüstung wegen zu meistern haben. Es sind diese aber keine amorphen Ritter, sondern Eheleute, Eltern, Töchter und Söhne wie andere auch, die nach ihrem Dienst im Spezialeinsatzkommando heil wieder heimkommen wollen; wie ebenfalls jeder andere auch, und die oft nicht wissen, mit was für Tätern sie es gleich zu tun bekommen.

Dienst, man sagt dieses Wort immer so dahin. Aber mehr Dienst, als ihn die Polizeibeamten in und um Halle am Mittwoch leisteten, ist im Grunde kaum vorstellbar. Sie versuchten zu retten, was noch zu retten war, nachdem in Deutschland erneut ein Rechtsextremist und Antisemit seine Tat begehen konnte.

In eigener Sache

Der Täter von Halle (Saale) hat im Internet ein Video seines Anschlags und außerdem ein sogenanntes Manifest veröffentlicht. Der SZ liegen diese vor, wir veröffentlichen sie aber nicht. Terroristen versuchen, im Internet ihr Gedankengut zu verbreiten. Die SZ macht sich nicht zum Werkzeug dieser Strategie. Aus diesem Grund zeigen wir ebenfalls keine Bilder expliziter Gewalt und achten darauf, in der Berichterstattung über Details zur Tat die Würde der Opfer zu wahren.

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