Im bayerischen Brauchtum gibt es den sogenannten Wolpertinger. Der Wolpertinger ist ein Mischwesen, das der Legende nach in den Wäldern des Freistaats leben soll. Es wird manchmal als Eichhörnchen mit Entenschnabel beschrieben, manchmal als Hase mit Geweih oder auch als Eule mit Wolfszähnen. Heute würde man den Wolpertinger vielleicht als Projektionsfläche bezeichnen: Jeder kann sich darunter vorstellen, was er will. Genauso wie beim Soli.

Zur Erinnerung: Bundesfinanzminister Olaf Scholz will die Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer für 96,5 Prozent der Steuerzahler abschaffen, für die meisten ganz, für einige teilweise. Nur die Spitzenverdiener sollen ihn künftig noch voll entrichten. Seit der Gesetzentwurf in der vergangenen Woche öffentlich wurde, wird über den Soli diskutiert, als hänge die Zukunft des Landes davon ab, und der Soli mutiert zu einem Wunderwesen mit beinahe magischen Eigenschaften, allerdings sind es nach Auffassung seiner Kritiker immer negative Eigenschaften. 

1. Der Soli als Vertrauensbremse

Nach dieser Lesart ist die Abschaffung des Solis ungemein wichtig für die Glaubwürdigkeit politischen Handelns. Schließlich sei dem Wähler einst versprochen worden, dass die Abgabe gestrichen werde, wenn die Einheit vollendet ist. Das Problem daran: Ein solches Versprechen gab es in dieser Deutlichkeit nicht. Im Gesetzentwurf ist lediglich von einer Überprüfung die Rede.

Wichtiger noch: Die Politik hat auch viele andere Dinge versprochen. Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, einen angemessenen Ausgleich zwischen Arm und Reich, Investitionen in die Zukunft. Einige dieser Versprechen stehen im Widerspruch zur Abschaffung des Rest-Solis. Der Sozialausgleich zum Beispiel oder neue Investitionen, die irgendwie finanziert werden müssen. Zwischen solchen sich widersprechenden Zielen abzuwägen und im Laufe der Zeit eine Neugewichtung vorzunehmen, ist die Kernaufgabe von Politik. Ein einzelnes Versprechen gewissermaßen für sakrosankt zu erklären, ist undemokratisch. Schließlich steht es jedem Wähler und jeder Wählerin frei, die Partei abzuwählen, die den Soli nicht vollständig abschaffen will, weil sie das Geld, statt es den Reichen zu geben, lieber anderweitig ausgeben will.

2. Der Soli als Konjunkturbremse

In den vergangenen Tagen ist ein weiteres Argument in die Debatte eingebracht worden: Die vollständige Streichung des Solidaritätszuschlags sei wichtig, weil dadurch die Konjunktur gestützt würde. Das klingt erst einmal gut, aber was genau wäre denn die Wirkungskette, die von einer Entlastung der Spitzenverdiener zu einem konjunkturellen Impuls führt? Die Spitzenverdiener geben staatliches Geld nach aller Erfahrung nicht aus, sondern legen es auf ihr Bankkonto. Da nützt es der Konjunktur nichts.

Nun zahlen zwar auch als Personengesellschaften firmierende Unternehmen den Soli, sodass eine Komplettabschaffung einer Senkung der Unternehmenssteuer für einige Unternehmen gleichkommt. Das Problem ist nur, dass es äußerst umstritten ist, ob niedrigere Unternehmenssteuern wirklich zu mehr Wachstum, Investitionen und Arbeitsplätzen führen. In den USA hat das Präsident Donald Trump versucht. Ergebnis: Ein riesiges Loch im Staatshaushalt und kaum Wirkungen auf die Investitionstätigkeit, weil viele Betriebe die Steuergeschenke an ihre Anteilseigner weitergereicht haben.

Wer die Konjunktur mit Steuerentlastungen ankurbeln will, der muss die kleinen und mittleren Einkommen entlasten. Das geschieht ja auch.

3. Der Soli als Anreizbremse

Einige Ökonomen halten die Teilabschaffung des Solidaritätszuschlags für problematisch, weil sie zu einer höheren Grenzbelastung der Einkommen führt. Was damit gemeint ist: Weil ab einer gewissen Einkommensgrenze der Soli bezahlt werden muss, behält der Staat von jedem zusätzlich verdienten Euro einen vergleichsweise hohen Anteil ein. Damit lohne sich die Arbeitsausweitung ab dieser Grenze nicht mehr.

Aber was bedeutet das in der Praxis? Dass Überstunden mit Verweis auf die hohe Grenzbelastung abgelehnt werden? Dass Professoren keine Vorträge mehr halten, weil der Staat beim Honorar zugreift? Das ist eher unwahrscheinlich. Wer sich die Frage stellt, ob er überhaupt eine Arbeit aufnehmen soll, für den mag es entscheidend sein, wie viel der Staat von jedem zusätzlichen Euro nimmt. In höheren Einkommensbereichen hingegen sind diese Dinge für den Arbeitseinsatz weniger wichtig. Da geht es um Ansehen, Karriereoptionen, Selbstverwirklichung, vielleicht noch den Anteil der Steuerlast am gesamten Einkommen. Ich jedenfalls habe noch nie einen Auftrag wegen meiner Grenzsteuerbelastung abgelehnt – ich kenne sie nicht einmal.

Es wäre also an der Zeit, den Soli zu entmystifizieren. Man kann der Meinung sein, dass er abgeschafft gehört, weil die Reichen ohnehin zu viel Steuern zahlen. Man kann auch anzweifeln, ob er mit der Verfassung vereinbar ist. Aber dann sollte man das so sagen und keine Ersatzdiskussionen führen.

Genauso gut könnte man auf Wolpertingerjagd gehen.