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Russische Invasion Teilmobilmachung und geplante Annexion: Was Putin gerade antreibt

Russlands Staatschef Wladimir Putin
Wird es jetzt einsam um den russischen Staatschef Wladimir Putin?
© Dima Korotayev / AFP
Moskaus Angriffskrieg auf die Ukraine läuft alles andere als geplant. Die russischen Truppen müssen zurückweichen, in Russland selbst begehrt die Bevölkerung auf – und Putins scheinbar Verbündete glänzen mit Zurückhaltung. Das bringt den Staatschef zur Verzweiflung.

Eigentlich hat der Kremlchef Land und Leute im Griff. Demonstrationen sind selten, wer aufmüpfig wird, wird weggesperrt, zuweilen sogar (mund-)tot gemacht. Außenpolitisch vermag es Wladimir Putin, westliche Staaten durch seine Uneindeutigkeit zu verwirren, bisweilen sogar zu beunruhigen. Auch jetzt bemüht sich Putin darum, diesen Eindruck aufrechtzuerhalten. Dabei läuft gerade – wenn überhaupt – nur sehr wenig nach Plan.

Das zeichnete sich bereits zu Beginn der russischen Invasion ab. Der von Russland prognostizierte Blitzsieg auf ukrainischem Terrain ist auch nach sieben Monaten ausgeblieben. Putins Truppen werden zunehmend zurückgedrängt, von einer schwächelnden Armee ohne ausreichend geschultem Personal ist die Rede. Stattdessen tingelt nun ein kremlnaher Oligarch durch russische Gefängnisse, auf der Suche nach Verbrechern, die die russischen Gräueltaten in der Ukraine fortführen und dem Land zum erhofften Sieg verhelfen.

Putin kann es sich kaum leisten, mehr Soldaten zu verheizen

Denn gegen die möglicherweise doch dringende Generalmobilmachung stemmt sich der Kreml  noch immer. Gründe gibt es dafür genug. Putin "weiß, dass er, wenn die Söhne der neuen Mittelschicht zum Militär eingezogen und an die Front geschickt werden müssen, eine politische Gegenreaktion im eigenen Land riskiert", schreibt Osteuropa-Experte Ivan Krastev in einem Gastbeitrag für den österreichischen "Standard".

Zudem drohe eine Massenauswanderung der jungen Russen. Wie Deutschland, habe auch Russland ein demographisches Problem, das sich durch die Corona-Pandemie noch verschärft hat. "Insofern kämpft Russland wahrscheinlich zum ersten Mal in seiner Militärgeschichte als demographisch gefährdete Nation, die es sich nicht leisten kann, Soldaten zu verlieren, weil es unmöglich sein wird, sie zu ersetzen."

Die Sache mit den getreuen Bürgern

Welche Optionen gibt es dann noch? Sich im Krieg geschlagen zu geben und die Soldaten heimzuholen, ist für den Kremlchef offenkundig weiterhin undenkbar. Bleibt also nur, zu geben, was zu geben ist. Dafür spricht zumindest die kürzlich verkündete Teilmobilmachung. Jetzt müssen die Reservisten ran – doch das kostet. Künftig womöglich nicht nur weitere Menschenleben, sondern schon jetzt den Rückhalt zahlreicher Bürger.

Bericht aus Moskau: Rainer Munz zu Teilmobilmachung und Ukraine-Krieg

Was die Russen von der Teilmobilisierung halten, zeigte sich zuletzt nicht nur an den Außengrenzen, wo sich die russischen Autos gen Westen stauten. In diversen Städten kam es zu Protesten, auch in Moskau. Wo sich die Menschen noch im Frühjahr tummelten, um mit dem "Z"-Symbol gespickten Flaggen ihre Unterstützung für die Politik des Machthabers und die Männer an der Front kundzutun, begehren die Bürger nun auf. Wobei sie das gewohnt harte Durchgreifen der Regierung in Kauf nehmen. Wer nicht spurt, wird direkt zum Kampf an der Front verdammt, zeigen etwa Hunderte Beispiele aus Moskau.

Doch auch in den eigenen Reihen mehrt sich der Protest. Während der Rücktritt Putins zunächst vereinzelt von Regionalpolitikern und Abgeordneten gefordert wurde, legten Abgeordnete aus St. Petersburg den Duma-Kollegen nahe, Putin wegen Hochverrats anzuklagen. Denn laut Artikel 93 der Verfassung der Russischen Föderation gefährdet er mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine die Sicherheit des Landes und seiner Bürger. Doch auch gegen die Politiker geht der Kreml mit gewohnter Härte vor: Gegen sieben Abgeordnete wird nun ermittelt, weil sie, laut einem neu eingeführten Paragrafen, die amtierende Regierung diskreditieren.

Harsche Töne von scheinbaren Freunden

Innerhalb der eigenen Staatsgrenzen vermag Putin es, den Gegenwind im Zaum zu halten. Das Ausland präsentiert sich dagegen widerspenstiger. Zuletzt zeigte sich das bei einem Treffen des Shanghai-Kooperationsrats in der usbekischen Stadt Samarkand. Während sich Putin dort den vermeintlich Verbündeten anbiederte, indem er etwa die "strategische, allumfassende Partnerschaft" mit China rühmte, ließen ihn die Teilnehmer abblitzen. Auf ein Bekenntnis zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, etwa von chinesischer Seite, wartete Putin vergebens. Stattdessen verlangte China vor der UN-Vollversammlung von den Konfliktparteien diplomatische Bemühungen sowie eine Eingrenzung des Krieges.

Auch für den türkischen Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist die Rückgabe der besetzten Gebiete plötzlich die Voraussetzung für den Frieden. Und der indische Premier Narendra Modi wagte es sogar, Putin öffentlich zu maßregeln. Damit steht auch die von einigen Staaten gepflegte "pro-russische Neutralität" auf wackeligen Beinen. Wird es also doch einsam um den Kremlchef?

Der Wunsch nach dem russischen Großreich

Das Misstrauen gegenüber Russland ist zumindest groß. Das wird offenkundig, ist aber in autokratischen Beziehungen, in denen man sich zwar "freundschaftlich" verhält, aber die eigenen Interessen nach außen vertritt, wenig überraschend.

Trotzdem lesen sich die von Russland verkündete Teilmobilmachung und das "Referendum" im Donbass wie eine Panikreaktion des Kremlchefs. Gut möglich, dass Putin und seine Anhänger den bereits vorhersehbaren Ausgang der "Wahl" als Sieg verkaufen werden. Obschon einige dem Machthaber den Rücken kehren, könnte er das Ergebnis am Ende nutzen, um vorzugeben, dass der Westen die Unterstützung für Russland unterschätzt habe.

Allemal lässt sich das Ganze aber schon jetzt als kläglicher Versuch lesen, die Zahl der russischen Untertanen zu erhöhen – und sich damit einer hundert Jahre alten Prognose eines russischen Chemikers anzunähern. Demnach sollte Russland bereits im Jahr 2001 mehr als 500 Millionen Bürger haben. Dass Putin dieses Ziel bis heute nicht einmal annähernd erreicht hat, dürfte eine weitere Motivation für den Kampf sein. Auch die gewaltsamen Deportationen und Umsiedelungen ukrainischer Bürger sprechen dafür.

Die politischen Entscheidungen mögen verzweifelt anmuten. Weniger ernst zu nehmen sind sie deshalb aber nicht. Denn der Krieg ist nicht vorbei. Und für jeden, der schon jetzt an den Sieg der Ukraine glaubt, verweist Putin auf den Atomknopf. Ob er ihn drücken wird, bleibt fraglich. So kann er in diesem Konflikt bisher aber immerhin einem Prinzip treu bleiben: seiner Unberechenbarkeit.

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