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Russland nach Putins Teilmobilmachung »Wir sind kein Fleisch!«

Landesweit werden Männer eingesammelt und an die Front geschickt. Viele Russen reagieren nicht mit patriotischer Begeisterung, sondern mit Unwillen – oder sogar Widerstand.
Demonstrant, Polizisten in Sankt Petersburg am 24. September

Demonstrant, Polizisten in Sankt Petersburg am 24. September

Foto: Uncredited / dpa

Es ist kühl, es regnet, auch die vielen Polizisten und Gefangenentransporter schrecken eher vom Demonstrieren ab. Dennoch sind mehr als 100 Menschen am Samstag ins Moskauer Zentrum gekommen, um gegen die von Kremlchef Wladimir Putin angeordnete Teilmobilmachung zu protestieren. Eine junge Frau mit geblümtem Kopftuch und beiger Herbstjacke steigt auf eine Bank und ruft: »Wir sind kein Fleisch!« Einsatzkräfte eilen heran, zerren sie weg. »Wir sind kein Fleisch! Wir sind kein Fleisch!«, ruft die Frau weiter, bis sie in einen der Transporter verfrachtet wird. Immer wieder hört man von dort das Knacken von Elektroschockern.

Auch in anderen russischen Städten gehen an diesem Wochenende bereits zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage Menschen auf die Straßen. Es sind die größten Antikriegsproteste seit Russlands Einmarsch ins Nachbarland Ukraine am 24. Februar. Videos aus der Ostseemetropole St. Petersburg zeigen, wie vermummte Sicherheitskräfte mit Schlagstöcken auf Demonstranten einprügeln. Am Samstagabend zählt die Bürgerrechtsorganisation OVD-Info landesweit mehr als 700 Festnahmen – darunter offenbar auch Minderjährige.

Mit dem Beginn der Mobilmachung von Reservisten betrifft der Krieg gegen die Ukraine, den viele Russen bislang verdrängt haben, nun so gut wie jede Familie  in dem Riesenland mit seinen 146 Millionen Einwohnern. Bei vielen herrscht blanke Panik. Sieben Monate nach dem Einmarsch in die Ukraine hat Putin womöglich die Rechnung ohne einen großen Teil seiner Bevölkerung gemacht.

In sozialen Netzwerken kursieren Videos vom Abtransport von Männern, der nur Stunden nach Putins TV-Ansprache am Mittwoch begann. Kremlkritiker veröffentlichen Aufnahmen von weinenden Ehefrauen und Müttern an Bahnstationen und Busbahnhöfen. »Papa, tschüss«, schluchzt eine Kinderstimme in einem viel beachteten Clip. In Chatgruppen berichten Menschen davon, wie Männer im wehrpflichtigen Alter ohne Vorwarnung an ihrem Arbeitsplatz oder Zuhause abgeholt werden.

Immer wieder wurden in den vergangenen Monaten Umfragen zitiert, denen zufolge die Mehrheit der Russen den Krieg unterstützt. Soziologen wiesen allerdings schon früh darauf hin, dass viele Befragte mit Unbehagen statt Enthusiasmus auf die Kämpfe blickten. Und nun zeigt sich deutlich, dass nur wenige einsehen, warum ihre Männer, Söhne und Enkel in der Ukraine sterben sollen. Es werde wohl noch eine Weile dauern, aber dann könne die Proteststimmung im Land noch deutlich zunehmen, glaubt der Politologe Abbas Galljamow.

»Mogilisazija« – ein Mix der Begriffe »Mobilisierung« und »Grab«

Schon jetzt ist die russische Sprache um ein neues Wort reicher geworden: »Mogilisazija« – eine Mischung aus den Begriffen »Mobilisierung« und »Grab«. Viele Russen sind überzeugt: Sie sind nur Kanonenfutter, sollen schlicht verheizt werden für die Ziele eines Kriegs, an denen selbst ihre Berufsarmee scheitert.

Unter dem Druck ukrainischer Gegenoffensiven hat sich die Armee zuletzt aus dem ostukrainischen Gebiet Charkiw zurückgezogen. Nun braucht es eine große Anzahl Soldaten, um zumindest die besetzten Teile der Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson zu halten, die Moskau mithilfe von derzeit laufenden Scheinreferenden annektieren möchte. Für besondere Wut in der russischen Bevölkerung sorgt zudem, dass einfache Bürger gezwungen werden, ihr Leben zu riskieren, während Mitglieder der politischen Führung unbeschadet davonkommen.

Insgesamt 300.000 Männer sollen laut Verteidigungsminister Sergej Schoigu eingezogen werden. Einer Recherche des Mediums »Nowaja Gaseta« zufolge soll es der Kreml insgeheim sogar auf eine Million Rekruten abgesehen haben. Putins Sprecher dementierte das zwar kürzlich – doch viele Russen haben das Vertrauen in Aussagen ihrer politischen Führung verloren.

Reservisten fehlerhaft eingezogen

In Wolgograd (früher Stalingrad) wurde Medienberichten zufolge ein 63-jähriger, an Diabetes erkrankter Mann eingezogen – obwohl offiziell nur bis 55-Jährige kämpfen sollen. In der Region Burjatien trifft es einen Vater von fünf Kindern. In Jakutien in Sibirien muss Republikchef Aissen Nikolajew einräumen, dass Fehler gemacht worden seien in den Wehrkreisämtern. »Es wurden Reservisten fehlerhaft eingezogen, sie müssen zurückgeschickt werden.«

Die Analysten des Institute for the Study of War (ISW) schreiben: »Das russische Mobilisierungssystem (…) wird vermutlich sogar daran scheitern, die Mobilisierungsreserven von schlechter Qualität zu produzieren, die Putins Pläne vorgesehen hätten«. Selbst von offiziellen russischen Stellen mehrt sich Kritik am anscheinend chaotischen Vorgehen des Militärs bei der Teilmobilmachung. Der Chef des Menschenrechtsrats beim russischen Präsidenten, Waleri Fadejew, fordert Verteidigungsminister Schoigu auf, das »Knüppelsystem« vieler Einberufungsstellen im Land zu beenden.

Der Chef der russischen Teilrepublik Tschetschenien im Nordkaukasus, Ramsan Kadyrow, der noch kürzlich für die Mobilmachung warb, kritisiert nun, dass Russland auch ohne Reservisten genügend Ressourcen habe. Es gebe in Russland fünf Millionen gut vorbereitete Menschen, die mit Waffen umgehen könnten, sagte Kadyrow.

Warteschlangen an den Grenzen

An den Grenzen zu Russlands Nachbarländern stauen sich unterdessen lange Autokolonnen. Flüge ins Ausland sind auf Tage ausverkauft oder bei weiten Zielen kaum zu bezahlen. Fluchtartig verlassen Tausende  mit dem Auto das Land – etwa in die Nachbarländer Kasachstan oder Georgien, wo keine Visa nötig sind. »Gib Bescheid, falls du jemanden kennst, der in den nächsten Tagen über den Landweg ausreist«, bittet eine Moskauerin in einem privaten Chat. »Wir versuchen, den Mann einer Freundin rauszubringen.«

Eine junge Frau aus Nowosibirsk schreibt nach Stunden des Bangens: Ihrem kleinen Bruder sei die Flucht ins zentralasiatische Kirgisistan geglückt. Sie ist erleichtert – und niedergeschlagen zugleich: »Wer weiß, wann ich ihn wiedersehen kann…«

mgo/dpa