Politik

Memorial-Gründerin Scherbakowa "Russland befindet sich in den Fesseln seiner Vergangenheit"

Eigentlich ist es eine selbstmörderische Entscheidung, sagt Irina Scherbakowa über die Mobilmachung in Russland.

Eigentlich ist es eine selbstmörderische Entscheidung, sagt Irina Scherbakowa über die Mobilmachung in Russland.

(Foto: picture alliance/dpa/POOL)

Memorial wurde gegründet, damit endlich die Wahrheit gesagt wird, sagt die russische Germanistin und Historikerin Irina Scherbakowa, eine der Gründerinnen der in Russland mittlerweile verbotenen Menschenrechtsgruppe. "Wir forderten eine juristische und politische Aufarbeitung der Massenverbrechen, um die Demokratisierung zu ermöglichen. Aber man wollte auf uns nicht hören", lautet ihr bitteres Fazit. "Weil es keine Aufarbeitung gab, gab es auch keinen Bruch mit der Vergangenheit."

ntv.de: Seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine wird immer wieder darüber spekuliert, ob Putin abgesetzt wird. Halten Sie das für ein realistisches Szenario?

Irina Scherbakowa: Nein, momentan noch nicht. Putin hat lange daran gearbeitet, seine Macht zu schützen. Ich glaube nicht, dass alle in seinem Umfeld mit dem Krieg einverstanden sind oder zufrieden mit seinem Verlauf. Aber sicher gibt es keine Bestrebungen, ihn abzusetzen. Trotzdem ist klar, dass die Macht nicht mehr so überzeugend wirkt wie noch vor ein paar Jahren. Je deutlicher wird, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen kann, desto mehr wird Putins Macht bröckeln. Aber wann das passiert und auf welche Weise? Ich glaube, das ist noch ein sehr weiter Weg.

Irina Scherbakowa war eine der Mitinitiatorinnen der 1987 gegründeten Menschenrechtsorganisation Memorial.

Irina Scherbakowa war eine der Mitinitiatorinnen der 1987 gegründeten Menschenrechtsorganisation Memorial.

(Foto: picture alliance / Frank May)

Eine Gruppe von Kommunalpolitikern aus St. Petersburg und Moskau hat Putins Absetzung gefordert. Repräsentieren die mehr als eine kleine Minderheit?

Das sind sehr mutige Menschen, die Bewunderung verdient haben. Und so klein ist diese Minderheit nicht. Wie viele es sind, das ist schwer zu ermitteln. In den russischen sozialen Netzwerken gibt es immer wieder Diskussionen darüber, inwieweit man den Umfragen glauben kann, auch denen des unabhängigen Lewada-Zentrums. Putins Sprecher Peskow hat zu Beginn des Krieges gesagt, dass wahrscheinlich gut 20 Prozent der Russen nicht einverstanden sind mit dem Angriff auf die Ukraine. In Anbetracht dieses Riesenlandes wären das nicht wenig, es wären einige Millionen Menschen. Trotzdem ist es schwer für sie, sich zu artikulieren. Der Gewaltapparat, den Putin aufgebaut hat, um abweichende Meinungen zu unterdrücken, ist sehr mächtig.

Ich glaube dennoch, dass die Stimmung immer düsterer wird, wenn Putin keine Erfolge aufzuweisen hat, wenn Russland sich immer stärker isoliert, wenn die Wirtschaftskrise durchschlägt. Russland steht vor einer schwerwiegenden politischen, wirtschaftlichen und militärischen Krise. Jetzt in der Situation der ukrainischen Offensive, als Putin sich doch für die Mobilisierung entschieden hat, hat das schon deutliche negative Wirkung. Eigentlich ist es eine selbstmörderische Entscheidung.

Wenn man die Propagandisten aus dem russischen Fernsehen hört, dann könnte es auch andersherum sein: dass Misserfolg im Krieg dazu führt, dass das Putin-Regime sich noch stärker radikalisiert.

Was wir seit einigen Wochen in den russischen Medien erleben, ist eine Hysterie. Das klingt ganz anders als in den ersten Monaten des Kriegs. Generell ist die propagandistische Linie: Wir stehen praktisch allein da, gegen uns kämpft ganz Europa, der "kollektive Westen", eigentlich ist es ein Kampf gegen die NATO. So werden die Misserfolge erklärt. Die Propagandisten ziehen daraus die Schlussfolgerung, dass in diesem Krieg alle Mittel angewendet werden müssen - alle! Nichts dürfe man schonen. Diese Propagandisten rufen letztlich zum totalen Krieg auf. Zugleich gibt es Kritik von Bloggern und den sogenannten Frontkorrespondenten am Kriegsverlauf und an der Armeeführung - aber nicht an Putin. Da ist von Dolchstoß die Rede und von Verrat und dass Russland sich nun Waffen aus Nordkorea besorgen müsse. Für mich klingt das nach Panik.

Stimmt es, dass Putin fürchten muss, nach einem Machtverlust in irgendeiner Form zur Verantwortung gezogen zu werden?

Ich glaube nicht, dass er in irgendeiner Weise ans Verlieren denkt, sondern nur daran, welche taktischen Optionen er noch hat. Putin verfolgt eine sehr gefährliche, oft listige, meist situative Taktik. Es ist klar, dass man im Kreml mit dem Kriegsverlauf unzufrieden ist, vielleicht zornig. Aber Putin hat sich zu sehr von der realen Welt entfremdet, als dass er an irgendwelche Folgen für sich denken würde. Er glaubt, er sei völlig unerreichbar. Keine historischen Beispiele werden ihn davon überzeugen, dass dies ein Irrtum sein könnte.

Gibt es überhaupt andere Machtzentren in Russland?

Nein. In den vergangenen zwanzig Jahren wurde alles getan, um eine Machtvertikale aufzubauen. Regionale Kräfte wurden entmachtet oder hörig gemacht. Es wurde eine bürokratische Maschine aufgebaut, die korrupt ist und abhängig von der Macht. Die unabhängigen Medien sind alle verboten, jede Form der Berichterstattung über Korruption und Machtmissbrauch ist illegal. In diesem Sinne sind auch die Reichen immer stärker von der Macht abhängig. Und man darf nicht vergessen, dass Privatkapital schon seit Jahren zunehmend verstaatlicht wurde. Die riesigen Konzerne wie Gazprom oder Rosneft gehören dem Staat - in Wahrheit herrscht in Russland Staatskapitalismus. Alles ist mit dem Staat verwachsen. Um das zu zerstören, bräuchte es eine sehr, sehr tiefe Krise.

Es gibt ja seit einigen Monaten diese seltsamen Todesfälle von hochrangigen Managern. Ob diese Menschen zu viel gewusst haben oder ob sie daran gehindert werden sollten, sich in den Westen abzusetzen, das weiß ich nicht. Aber so wird verhindert, dass neue Machtzentren entstehen.

Gibt es eine gemeinsame Ideologie der politischen Elite in Russland?

Anders als in der Sowjetunion gibt es in Putins Russland keinen festen ideologischen Rahmen, kein geschlossenes System, das die Gläubigen an Staat oder Partei bindet. Natürlich geben sich die Personen in Putins Umfeld als überzeugte Patrioten, einige, wie Medwedew, werden dabei richtig hysterisch. Aber das sind alles nur Machtmenschen: Menschen, die sich enorm bereichert haben und von Putins Staat abhängig sind. Sie sind eng miteinander verbunden. Wenn ein Mitglied versuchte, sich zu verselbstständigen, dann ging das in der Regel schlimm für ihn aus.

Es gibt keine verbindenden Überzeugungen?

Im Westen wird immer versucht, die philosophische Untermauerung des Putinismus zu enträtseln. Dann werden Figuren wie Dugin zitiert mit seinen faschistoiden, aggressiven und völlig irrsinnigen Ideen. Aber für Putins reale Macht spielen solchen Ideen überhaupt keine Rolle. Was es gibt, ist eine traditionalistische, geradezu archaische Vorstellung von Russlands einstiger Größe, die wiedererlangt werden müsse. Das ideologische Konstrukt dahinter ist eine Giftmischung. In Shakespeares "Macbeth" gibt es eine Szene, in der die Hexen einen Trank zusammenrühren. Sie werfen alles Mögliche in ihren Kessel, Gift und Dreck. So muss man sich die Zusammensetzung des Weltbilds der russischen Führung vorstellen: eine giftige Mischung aus Ideen des 19. Jahrhunderts, aus der russischen Orthodoxie, verbunden mit faschistoiden Elementen aus den 1920er- und 1930er-Jahren. Die Parolen der Propagandisten klingen deshalb auch fast wie wörtliche Zitate aus dem Faschismus: "Putin ist Russland, ohne Putin kein Russland" oder "ein Staat, ein Sieg, ein Präsident". Solche Parallelen sind keine Absicht, die kommen sozusagen von selbst aus ihren Mündern.

Das eigentliche Ziel dieser Giftmischung ist Unterordnung unter den Staat. Diesen Leuten geht es nicht um das Land, um die Menschen oder um das Volk, auch wenn ihre Parolen das mitunter suggerieren. Es geht immer nur um den Staat, und um Putin als Verkörperung dieses Staates.

Sie sind eine der Gründerinnen von Memorial, und schon der Name sagt, worum es geht: Sie wollten an die Vergangenheit erinnern, eine Auseinandersetzung mit dem Stalinismus anstoßen. Was ändert es, wenn Menschen die Geschichte ihres Landes nicht kennen?

Als in den 1980er-Jahren Perestroika anfing, die Umwandlung, ging es darum, ein System zu verändern, das noch von Stalin geschaffen worden war. Der Preis für den Aufbau dieses Systems war enorm, Stalin war verantwortlich für Millionen Tote. Das war zwar allen klar, und ältere Bürger erinnerten sich sogar noch an den Großen Terror. Aber wir wollten, dass offen darüber gesprochen wird, dass endlich die Wahrheit gesagt wird, auch wenn sie schrecklich sein würde. Zugleich war der Alltag im Russland der 1990er-Jahre für viele Menschen sehr hart. Damals entstanden die neuen Eliten - egoistisch, habgierig und unsozial. Das alles führte dazu, dass viele Russen den Glauben an den demokratischen Weg verloren und sich auch nicht mehr erinnern wollten.

Wir forderten damals eine juristische und politische Aufarbeitung der Massenverbrechen, um die Demokratisierung zu ermöglichen. Aber man wollte auf uns nicht hören. Sogar aus der liberalen Ecke hieß es, das sei doch nur Vergangenheit, man müsse in die Zukunft schauen, die Marktwirtschaft werde das schon richten. Weil es keine Aufarbeitung gab, gab es auch keinen Bruch mit der Vergangenheit. Es ist eine Tragödie. Russland befindet sich in den Fesseln seiner Vergangenheit.

Wie ist die Sicht auf Stalin im heutigen Russland? Was für ein Stalin-Bild propagiert Putin?

Als Putin an die Macht kam, hat er anfangs nur wiederholt, was auch in den 1990er-Jahren immer gesagt wurde: Ja, es gab Verbrechen und Terror, das ist unverzeihlich, wir müssen der Opfer gedenken. Aber es war klar, dass es nur um die Opfer geht und nicht um die Täter. Die Täter wurden nicht entlarvt, sie wurden nicht angeklagt oder verurteilt. Und je deutlicher wurde, dass die wichtigste Aufgabe der Aufbau eines autoritären Staates war, desto mehr wurde Stalin ins positive Licht gestellt, denn Stalin war das wichtigste Symbol für einen starken Staat und der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg wurde seiner Führung zugeschrieben - der große Mythos, den er selbst geschaffen hat.

Ist Putins Geschichtsbild eine ähnliche Mischung wie sein sonstiges Weltbild?

Putin behandelt die Geschichte ähnlich wie seine ideologische Giftmischung: Er nimmt sich, was ihm gefällt. Alles, was mit Bolschewismus zu tun hat, mit Internationalismus, der Weltrevolution oder überhaupt mit der Revolution, das wird rausgeworfen. Für ihn ist die russische Geschichte eine direkte Linie starker Männer von Iwan dem Schrecklichen bis hin zu Stalin. Das ist so flexibel, dass es schon postmodern ist. Nehmen sie Peter den Großen. Ende der 1990er-Jahre war er ein Vorbild - damals sollte das große Russland wiederhergestellt werden, das 1917 unterging. Dann galt er als Westler, der einen falschen Weg für Russland wählte. Jetzt ist Peter der Große wieder da als der Zar, der Territorien zurückgeholt hat, die angeblich immer schon russisch waren. Was Putin über die russische Geschichte oder über die Ukraine sagt, ist eine krude Mischung von Mythen und Vorstellungen auf so niedrigem Niveau. Es wäre zum Lachen, wenn es den Leuten nicht durch die Propaganda eingehämmert würde.

Ist den Russen nicht klar, dass Stalin für den Tod von Millionen Menschen verantwortlich ist?

Man weiß das - einerseits. Andererseits wird seit Jahren gestreut, dass das alles so angeblich nicht stimme, dass das alles Mythen seien, dass wir die ganze Wahrheit nicht kennen - das Übliche. Es ist ein Kampf Mythen gegen Fakten. Und gegen Mythen ist schwer zu kämpfen.

Memorial International wurde ab 2016 als "ausländischer Agent" eingestuft.

Unser Menschenrechtszentrum wurde schon 2014 zum "ausländischen Agenten" erklärt. Das war Teil einer langen Entwicklung, um uns mundtot zu machen. Dazu gehörten auch immer wieder hohe Strafen, die uns ersticken sollten. Wir haben mit Solidaritätskampagnen reagiert: Menschen haben Geld gesammelt, damit wir die Strafen bezahlen konnten. Im Dezember 2021 hat das Oberste Gericht der Russischen Föderation Memorial International endgültig liquidiert. Wir wurden zerschlagen, weil unsere Sicht auf die Vergangenheit eine ganz andere ist als die, die von diesem Staat verkündet wird.

Welche Art von Repression haben Sie im vergangenen Jahr persönlich erlebt?

Wenn man bedenkt, wie viele Menschen in diesem Zeitraum verhaftet und zu drakonischen Strafen verurteilt wurden, ist das nicht erwähnenswert. Gegen mich gab es seit 2016 diffamierende Fernsehsendungen - wir seien ausländische Agenten, Teilnehmer des Geschichtswettbewerbs, den ich in Memorial geleitet habe, wurden eingeschüchtert, wir wurden auf der Straße mit irgendwelchen Chemikalien besprüht, bezahlte Hooligans stürmten Räume von Memorial, es gab ständig Anklagen gegen uns, bei Demos wurden wir auseinandergejagt, mein Mann wurde festgenommen und musste zwei Mal eine Nacht auf dem Polizeirevier verbringen. In einem normalen Leben wäre das ein Horror. Aber das war die übliche Lebensweise der letzten Jahre.

Putin trat 2001 im Bundestag auf und sprach darüber, "dass niemand Russland jemals wieder in die Vergangenheit zurückführen kann". Hat die deutsche Politik sich etwas vorgemacht, wenn es um Russland ging?

Ja, sie hat versucht, sich selbst zu täuschen. Unsere Rolle als Kritiker innerhalb Russlands war sehr undankbar. Wir hatten immer wieder Besuche von deutschen Politikern, mit denen wir von Anfang an absolut offen gesprochen haben - seit 2001. Wir haben versucht darzustellen, dass ein Abbau aller demokratischen Errungenschaften stattfindet, den man ernstnehmen muss. Aber die politischen und wirtschaftlichen Interessen waren offenbar wichtiger als Menschenrechte und die Zivilgesellschaft. Dieses Wegschauen, diese Allianzen haben es Putin erleichtert, seine Macht in Russland auszubauen. Darüber hinaus wurde Putin in seinem Glauben bestärkt, dass es für den Westen immer nur um wirtschaftliche Interessen und Gewinn geht - und dass er am Ende mit allem durchkommt.

Bundespräsident Steinmeier besuchte 2017 auch Memorial, als er in Moskau war.

Bundespräsident Steinmeier besuchte 2017 auch Memorial, als er in Moskau war.

(Foto: picture alliance / Bernd von Jutrczenka/dpa)

Wie verfolgen Sie als Russin in Deutschland die Debatte über Waffenlieferungen an die Ukraine?

Ich gehöre einer eigentlich pazifistischen Generation an. Wir sind Kinder von Vätern, die selbst im Krieg waren, wir haben gesehen, welche Spuren Krieg hinterlässt. Mein Vater war Kriegsinvalide, ich sah seine fast abgeschossenen Hände jeden Tag. Und das waren nur die körperlichen Schäden. Bei vielen seiner Freunde war erkennbar, dass sie mit 18 oder 19 Jahren Schreckliches erlebt hatten. Wir wussten natürlich, dass dies ein existenzieller Krieg gewesen war. Deutschland musste besiegt werden. Trotzdem war unsere Lehre daraus: Nie wieder Krieg. Wenn wir jetzt sehen, dass die einzige Möglichkeit im Sieg der Ukraine liegt - auch für Russland -, dann ist das eine tragische Erfahrung.

Aber?

Putin hat die europäische Friedensordnung zertrampelt. Die Beschwörung des Friedens drückt die Angst davor aus, zu begreifen, was in der Ukraine passiert. Ich lebe jetzt in Weimar. Wenn man hier auf die Straße tritt, ist es schwer, sich vorzustellen, was in diesem Moment in der Ukraine geschieht. Wenn alles so weit weg zu sein scheint, dann ist es leicht zu sagen, dass schnell Frieden geschlossen werden muss. Aber eine solche Forderung basiert auf einer unglaublichen Täuschung.

Ich kenne einige der Menschen, die diese zwei offenen Briefe unterschrieben haben, in denen die Ukraine zu einem Waffenstillstand gedrängt wird, und ich weiß, dass sie glauben, gute Gründe zu haben. Aber das ist ein Verstecken vor der Wahrheit; ein Versuch, die heile Welt wiederherzustellen. Wie kleine Kinder, die sich die Hände vor die Augen halten und sagen: Du siehst mich nicht. Ich hoffe zumindest, dass es das ist, und nicht das Ergebnis einer Manipulation durch Putins Propaganda.

Putin ist angeblich krank. Was würde geschehen, wenn er plötzlich stirbt?

Das ist schwierig vorherzusagen. Für die Mehrheit der Menschen in Russland ist er noch immer das Symbol dieses Staates und dieser Macht. Wir haben bereits darüber gesprochen, dass es kein anderes Machtzentrum gibt. Vielleicht gäbe es trotzdem auf einmal einen Nachfolger, der wie der Teufel aus der Kiste springt. Aber gerade vor dem Hintergrund einer militärischen Niederlage in der Ukraine wird jeder Nachfolger sich ein Stück weit von Putin distanzieren müssen. In meinen Augen könnte dann ein Prozess der Liberalisierung anfangen.

Andererseits darf man nicht vergessen: Die russische Gesellschaft ist durch Lüge und Propaganda zersetzt worden. Sie wird Stärke und Geduld brauchen, um mit sich selbst ins Gericht zu gehen. Das wäre ein sehr schwieriger Prozess, deshalb kann es sein, dass populistische Parolen die Oberhand gewinnen, die die alten Opfermythen neu beleben und die Schuld auf andere schieben. Geopolitisch gefährlich ist auch die Entmündigung der Regionen. In einer Krise ohne Machtzentrum könnte es zum Zerfall des Landes kommen.

Nawalny sagt sinngemäß: Ich bin nicht euer Anführer, handelt selbst! Ist das realistisch?

Der Aufruf zum eigenen Handeln ist eigentlich ein Aufruf, sich zu organisieren. Ich weiß nicht, ob ich es noch erleben werde, aber ich hoffe es sehr. Es gibt Freiwillige, die politischen Häftlingen helfen, es gibt eine Solidarität unter Juristen und Rechtsanwälten, es gibt trotz allem Netzwerke, wenn auch das alles in Russland sehr gefährlich ist. Wir haben es jetzt wieder gesehen, wie vor allem junge Leute in Russland auf die Straße gegangen sind, um gegen die Mobilmachung und gegen den Krieg zu protestieren, trotz der Gefahr, zusammengeschlagen und festgenommen zu werden. Aber wann die Stimmung wirklich umkippt, ist schwer vorauszusagen.

Mit Irina Scherbakowa sprach Hubertus Volmer

Dieses Interview erschien zuerst am 24. September. Wir veröffentlichen es erneut, nachdem Memorial den Friedensnobelpreis erhalten hat.

Quelle: ntv.de

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