Wer sauer über den ESC-Sieg der Ukraine ist, hat den Krieg nicht verstanden

Im Internet regen sich viele über den „politischen“ Gewinn der Ukraine auf. Sie verkennen aber, worum es bei dieser Show – und im Ukraine-Krieg – wirklich geht.

Die Band Kalush Orchestra nach ihrem Sieg im ESC – völlig verdient und wichtiger denn je, findet unsere Autorin.
Die Band Kalush Orchestra nach ihrem Sieg im ESC – völlig verdient und wichtiger denn je, findet unsere Autorin.Marco Bertorello/AFP

Wer den Eurovision Song Contest einmal gesehen hat, wird einen Satz schon tausendmal gehört haben: „Dieser Wettbewerb bringt die Menschen zusammen“. Das war schon immer so gewollt: Der erste ESC fand 1956 in einem Europa statt, das gerade den Zweiten Weltkrieg hinter sich hatte. Er wurde ins Leben gerufen, um die Europäer einander wieder näher zu bringen und um ihnen die Möglichkeit zu geben, in einem freundschaftlichen Rahmen ein wenig Wettbewerbsenergie abzubauen. Damals wie heute war es nicht möglich, für das eigene Land zu stimmen.

In der modernen Form des ESC mögen diese hehren Ziele manchmal vor lauter Kitsch kaum noch zu erkennen sein, doch sie bestehen noch. Der Kontext der großen weiten Welt kann deshalb nie ganz außen vor gelassen werden. Das mag eine unangenehme Wahrheit für die Menschen sein, die in den letzten 24 Stunden ihrer Verärgerung über den Sieg der ukrainischen Band Kalush Orchestra mit ihrem Song „Stefania“ im Finale des diesjährigen Wettbewerbs am Sonnabend freien Lauf gelassen haben.

Seit dem Sieg (dem dritten für die Ukraine im ESC) überschlagen sich in den sozialen Medien die Kommentare darüber, was für ein Skandal dieser Sieg für diesen liebenswert albernen Wettbewerb sei. Dabei gibt es genug gute Gründe für den ersten Platz der Ukraine. Unter anderem, dass „Stefania“ musikalisch sehr respektabel ist. Viele lassen sich davon aber nicht überzeugen. Facebook-Artikel werden mit wütenden Smileys bedacht, die Kommentare sind nicht besser: Der Wettbewerb sei manipuliert worden, „alles nur politisch“, „ich will meinen Rundfunkbeitrag zurück“, und so weiter. ESC-Superfans beschweren sich bei TikTok und YouTube über vermeintliche „Mitleidspunkte“ für den Gewinner.

Im ESC ging es nie nur um die Musik

Viele dieser Tastaturkrieger scheinen den Ernst des „politischen“ Kontextes nicht zu begreifen, in dem Kalush Orchestra im italienischen Turin aufgetreten ist. Hier geht es nicht um das viel beklagte sogenannte „Blockvoting“ am ESC oder darum, dass ein Land versucht hat, irgendeine kitschige Botschaft in seinen Auftritt einzubauen. Kalush Orchestra trat inmitten eines brutalen Krieges auf, der gegen ihr Land geführt wird und der bisher mehrere tausend zivile Todesopfer gefordert und sechs Millionen Menschen zur Flucht gezwungen hat. Wer die europäische Solidarität mit dem Land, das diesem Ansturm ausgesetzt ist, einfach „Politik“ nennt, hat die Realität der Situation, in der sich die Ukraine jetzt befindet, nicht verstanden.

Diese Situation sollte spätestens mit dem Musik-Video für „Stefania“ klar geworden sein, das heute Morgen veröffentlicht wurde. Gedreht wurde es in den ukrainischen Städten Butscha, Irpin, Hostomel und Borodjanka, die in den letzten Monaten dem Rest der Welt durch die brutale und grausame Zerstörung durch die russische Armee bekannt geworden sind. Zu den Folk-Hip-Hop-Beats von Kalush tragen ukrainische Soldatinnen Kinder in Sicherheit.

Die Kritiker fordern, dass es beim ESC einfach nur um Musik gehen solle - auch an dieser Stelle würde ein Blick in die Geschichte des ESC nicht schaden. Als langjährige und begeisterte ESC-Zuschauerin war ich schon immer von der Art und Weise fasziniert, wie diese Show auch als Lackmustest für Europa (und natürlich auch Australien) dient. Das gilt für musikalische Trends, aber auch für die Reaktion der Europäer auf das Zeitgeschehen – niemand hatte zum Beispiel 2014 damit gerechnet, dass die österreichische Drag-Queen Conchita Wurst einen so großen Sieg erringen würde. Man dachte, das Fernsehpublikum sei noch zu konservativ und nicht bereit, sich von einem bärtigen Mann im Glitzerkleid zur besten Sendezeit ein Ständchen bringen zu lassen. Das Gegenteil war der Fall, und Conchita gewann mit einem Erdrutschsieg – ähnlich wie die Ukraine in diesem Jahr.

–Das Wort „Politik“ taucht besonders häufig in den Kommentaren der Empörten auf: „Warum muss heutzutage alles so politisch sein?“, beklagen sie. Dabei wird aber nicht nur vergessen, dass der moderne ESC von Natur aus politisch ist – warum sonst geben Griechenland und Zypern einander immer 12 Punkte und Armenien und Aserbaidschan nie? – sondern auch, dass Musik und Kultur selbst politisch sind. Russland hat dies in seinem Krieg gegen die Ukraine bisher nur zu gut bewiesen: Russische Bomben haben wahllos Museen, Galerien und andere Stätten zerstört, die wichtige Artefakte der ukrainischen Kultur beherbergten, von denen viele nun für immer verloren sind. Dass Kalush Orchestra vor diesem Hintergrund ihren Song in ukrainischer Sprache, in traditioneller ukrainischer Kleidung und mit ukrainischen Volksinstrumenten vortragen durfte, war ein wichtiges Zeichen des Widerstands – nicht nur für ihr Land, sondern auch für das europäische Kulturerbe.

Der Sieg von Kalush Orchestra bedeutet für die Ukraine unglaublich viel

In den letzten 24 Stunden habe ich als Gegenmittel zu den unaufhörlichen negativen und unreifen Kommentaren der Gegner des ukrainischen Sieges geschaut, was ukrainische Bekannte aus ihren Kreisen posten und teilen. Besonders beeindruckt hat mich der Tweet eines ukrainischen Autors, der schrieb, das Ergebnis bedeute den Ukrainern so viel, weil es zeige, dass die europäische Öffentlichkeit fest auf ihrer Seite stehe – ganz im Gegensatz zu ihren führenden Politikern, die mit ihrem Zögern in Bezug auf Sanktionen oder materielle Unterstützung für die Ukraine enttäuscht haben. Es ist für uns wahrscheinlich schwer, uns in unseren sicheren Wohnungen die Bedeutung dieses Sieges für Ukrainer vorzustellen. Aber sie ist auf jeden Fall mehr wert als die Frage, ob es einem Musikwettbewerb gelungen ist, völlig „unpolitisch“ zu bleiben.

In diesem Jahr haben die ESC-Zuschauer die Gelegenheit genutzt, um Solidarität mit einem Land zu zeigen, das sich in einem Krieg verteidigt, der ganz Europa mehr betrifft, als einige von uns vielleicht wahrhaben wollen. Die wütenden Tweets können also gerne weiter kommen: Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass es kein besseres Zeugnis für den Geist des ESC hätte geben können, als den Sieg von Kalush Orchestra.