"Fühlen Sie sich eigentlich als Russe oder als Ukrainer?" wurde Andrej Kurkow diese Woche im Schweizer Rundfunk gefragt. Der Schriftsteller wurde in Russland geboren, lebt aber seit seiner Kindheit in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Aber seine Bücher, die schreibt er noch immer auf Russisch. "Meine Muttersprache ist Russisch", sagte Kurkow darauf. "Aber ich bin ein politischer Ukrainer."

Ein gebürtiger Russe, der Russisch spricht, sich aber als Ukrainer definiert: Nichts könnte weiter entfernt sein von Putins Bild der Ukraine – oder von dem, was darüber zu wissen glauben. Dem Mythos vom russki mir, der "russischen Welt", dass sich alle Russen oder zumindest alle Russisch-Sprachigen in den ehemaligen Sowjetrepubliken automatisch mit Russland verbunden fühlen. Zugleich stellt der russische Präsident immer wieder nicht nur die ukrainische Sprache infrage, sondern auch, dass die Ukraine eine Nation ist.

Die Ukraine hat mit dem Bild, das sich Putin von dem Land macht, wenig zu tun. Das war zwar schon 2014 so, als die russische Propaganda die Massenproteste auf dem Kiewer Maidan zu einer Mischung aus "Faschistencoup" und CIA-Plot zurechtlog – und als Vorwand für die Annexion der Krim und die Besetzung der Ostukraine nahm. Aber Experten vermuten, dass Putin das Land heute noch weniger versteht als damals. Dass sich die russische Führung schon lange nicht mehr mit dem Wandel in der ukrainischen Zivilgesellschaft auseinandersetzt, sondern sich nur noch mit der oligarchischen Elite des Landes umgibt, die nach Moskau geflohen ist, wie der Russland-Kenner Dmitrij Trenin vom Carnegie Moscow Center der Financial Times sagt.

Aber der Wandel in der ukrainischen Gesellschaft kennt seit 2014 nur eine Richtung: Westen. Nur wenige Monate nach dem Maidan wurde das EU-Assoziierungsabkommen (daran hatten sich die Proteste damals entzündet) unterzeichnet. Zugleich ging die Führung in Kiew immer demonstrativer gegen Russland vor. Nur drei Beispiele von vielen: Seit 2015 gibt es keine Direktflüge mehr zwischen der Ukraine und Russland. Zuletzt wurde sogar eine eigene, unabhängige ukrainisch-orthodoxe Kirche gegründet, um von der Moskauer Mutterkirche unabhängig zu sein. Und drittens: Im Vorjahr entzog der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj drei pro-russischen Fernsehsendern die Lizenz, darunter zwei Sender, die einem engen Putin-Vertrauten, Viktor Medwetschuk, zugeschrieben werden.

Er nannte die Krim den "russischen Tempelberg"

Ganz anders sieht das freilich in Putins Argumentation aus. Ukrainer und Russen seien odin narod, "ein Volk", die wahre Souveränität der Ukraine könnte "nur in einer Partnerschaft mit Russland" liegen, schrieb Putin in einem im vergangenen Juli veröffentlichten Essay. Das klingt nicht nur nach Sicherheitsinteressen, der Verhinderung der Stationierung von Nato-Truppen und -Waffen, den Forderungen also, mit denen die Russen in die Verhandlungen mit den USA gingen.

Putins Ukraine-Politik hatte immer einen kulturell-historischen, fast missionarischen und kolonialistischen Zug. Als er die Krim annektierte, nannte er sie den "russischen Tempelberg", weil sich dort Wladimir der Große im 10. Jahrhundert taufen ließ. Und immer wieder dringt ein Narrativ durch: Die Ukraine, unterjocht vom westlichen Imperialismus, müsse von Russland befreit werden. Dieses Bild zeichnet zumindest die russische Propaganda.

Moskau könne nie zulassen, dass die Ukraine zu einem "Anti-Russland" werde, schrieb Putin in seinem Essay. Das Problem ist nur: Gerade dazu hat er die Ukraine selbst gemacht. Während vor der Maidan-Revolution 2014 noch etwa jeder zweite Ukrainer dem russischen Präsidenten generell positiv gegenüberstand und von einer friedlichen Koexistenz zwischen der EU und Russland ausging, waren es im August 2014 nur noch 16 Prozent. Heute sind 75 Prozent der Ukrainer negativ gegenüber Putin eingestellt, eine Union mit Russland wollen überhaupt nur sechs Prozent, so eine aktuelle Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS).