Expertinnen: Deutschland hat immer noch ein Rassismus-Problem

In Deutschland wird nun breiter über Rassismus diskutiert. Doch die Debatte hinkt hinterher. Zwei Philosophinnen wollen das ändern. Wie, erklären sie hier.

Kristina Lepold und Marina Martinez Mateo
Kristina Lepold und Marina Martinez MateoPhoto links: Privat, Photo rechts: Robin Hinsch

Die letzten zwei Jahre haben gezeigt: Ein Umdenken über Rassismus beginnt in Institutionen, der Sprache, im Denken. Spätestens seit den Morden von Halle und Hanau wird auch in Deutschland sehr viel breiter über Rassismus diskutiert als zuvor. Immer wieder aber stockt die öffentliche Auseinandersetzung: Rassismus gilt vielen als Problem vereinzelter Rechter – nicht etwa als Grund, überkommene Gewohnheiten zu überdenken. Die Philosophinnen Kristina Lepold und Marina Martinez Mateo wollen das ändern. Im Suhrkamp Verlag haben sie jetzt den Band „Critical Philosophy of Race“ herausgegeben, der eine kritische Selbstbefragung anleiten und die philosophische wie öffentliche Debatte dadurch weiterbringen will.

Berliner Zeitung: In den USA wird critical race theory von Teilen des weißen Mainstreams als gesellschaftliche Bedrohung gezeichnet. Im Spiegel war inzwischen von „Angriffen auf die Werte des Westens“ die Rede. Wird sich diese Polarisierung in Ihren Augen hier noch zuspitzen?

KRISTINA LEPOLD: In den USA geht es bei der Debatte um die Critical Race Theory vor allem darum, welche Bedeutung race und Rassismus in der US-Geschichte und der aktuellen Gesellschaft haben. Die Polemik gegen sie zielt eindeutig darauf ab, das Sprechen über race und Rassismus insgesamt zu erschweren. Im deutschen Kontext sind diese Ideen verhältnismäßig neu und wurden in der Öffentlichkeit noch nicht so ausgiebig rezipiert. Eine gewisse Abwehrhaltung ist aber auch hier erkennbar.

MARINA MARTINEZ MATEO: Ich habe schon den Eindruck, dass sich die Debatte auch in Deutschland zuspitzt, wobei viele der an der Zuspitzung Beteiligten wenig in Betracht ziehen, was tatsächlich in den Texten steht, die kritisiert werden. Unser Reader ist der Versuch, Ansätze der Critical Philosophy of Race nüchtern und in ihrer Differenziertheit darzustellen. Und so auch eine Ressource für eine ernsthafte Diskussion anzubieten

Wie erklären Sie sich, dass das Thema die weiße Mehrheitsgesellschaft so sehr provoziert?

LEPOLD: Vermutlich, weil es um etwas geht. In den USA gibt es nicht nur den Versuch, das Sprechen über race und Rassismus aus Schulen fernzuhalten. Es gibt auch Versuche, die Rechte Schwarzer Wähler:innen einzuschränken. Dahinter steht ein klares Kalkül. Teile der republikanischen Partei sehen eine Vormachtstellung bedroht und möchten sie aufrechterhalten. Der US-Kontext und der deutsche Kontext sind aber nicht direkt vergleichbar. Im deutschen Kontext scheint sich die Abwehrhaltung aktuell vor allem darum zu drehen, dass die Critical Race Theory als etwas wahrgenommen wird, das womöglich die Art und Weise verändert, wie wir zu leben gewohnt sind. Das empfinden einige als anstrengend oder sogar bedrohlich.

MARTINEZ MATEO: Ja, auffällig ist für mich in Deutschland auch  die Bezugnahme auf eine Normalität, die jetzt scheinbar in Frage stehe und ins Wanken geriete. Also, dass es eben „normal“ sei, bestimmte Worte zu benutzen, die man etwa in der Kindheit gelernt hat. Dass man als „normaler“ Mensch nicht verstehen kann, warum bestimme Ausdrucksweisen heute nicht „erlaubt“ sind und so weiter.

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Privat
Kristina Lepold
...ist Juniorprofessorin für Sozialphilosophie und Kritische Theorie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Kristina Lepold ist seit 2021 Mitglied des DFG-Forschungsnetzwerks „The Relation between Recognition Theory and Theories of Epistemic Injustice“. Sie ist aktuell auch Vorstandsmitglied bei SWIP Germany e.V., die sich für die Förderung von Frauen* in der Philosophie einsetzt.
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Robin Hinsch
Marina Martinez Mateo
... ist Juniorprofessorin für Medien- und Technikphilosophie an der Akademie der Bildenden Künste München. Martinez Mateo promovierte zur kritischen Theorie der Repräsentation. Sie ist Mitglied im DFG-geförderten Wissenschafts-Netzwerk „Kulturen ästhetischen Widerstands“.

Sie meinen etwa bestimmte Wörter in Kinderbüchern und Romanen, von denen in den letzten Jahren oft gefordert wurde, dass sie herausredigiert werden …

MARTINEZ MATEO: Genau. Obwohl man sich in diesem Kontext fragen muss, was für eine Normalität das eigentlich sein soll und warum und vom wem die Verwendung jener Wörter überhaupt je als normal wahrgenommen werden konnte. Dennoch gibt es diese Vorstellung, dass es diese schöne Normalität gegeben habe und jetzt alles so viel komplizierter würde.

In Ihrem Reader schreiben Sie konsequent von „race“ – nicht von „Rasse“. Die Grenzen der Übersetzbarkeit des Begriffs besprechen Sie explizit. Sollten wir den Begriff „Rasse“ aus dem Wörterbuch streichen?

LEPOLD: Ich denke, man muss das Wort „Rasse“ nicht aus dem Wörterbuch streichen, gleichzeitig muss man sich aber seiner Bedeutung bewusst sein. Wenn man in Deutschland von „Rasse“ oder „Rassen“ spricht, legt man nahe, es gäbe klar definierte Gruppen von Menschen, die sich nach physischen, kulturellen und psychologischen Merkmalen voneinander unterscheiden. Solche Gruppen gibt es nicht. Nun könnte man erwidern: Wie man von Hexen spricht, kann man auch von „Rassen“ sprechen. Doch das Problem des „Rasse“-Begriffs ist eben, dass er historisch sehr großen Schaden angerichtet hat und die fragwürdigen Vorstellungen, die mit ihm verknüpft sind, bis heute wirksam sind.

Im Reader erwähnen Sie auch die verschiedenen Bedeutungsdimensionen der beiden Begriffe.

LEPOLD: Genau, „race“ meint auch einfach etwas anderes als „Rasse“. Die Texte in unserem Reader beziehen sich nicht auf „natürliche“ Gruppen – sie meinen soziale Gruppen. Also Gruppen, die sich herausgebildet haben, weil man in der Moderne irgendwann damit angefangen hat, Menschen etwa nach Hautfarbe zu unterscheiden und unterschiedlich zu behandeln. Dafür brauchen wir einen Begriff. 

Liegt in dem Anglizismus eine Gefahr, abgehoben zu wirken und bestimmte Leute womöglich nicht abzuholen, die für diese Diskussion wichtig wären?

LEPOLD: Diese Gefahr sehen wir. Gerade weil es uns wichtig ist, dass die Diskussion breit geführt wird, nicht nur von einer kleinen Gruppe. Wir müssen eben weiter darüber nachdenken, wie wir über race und Rassismus im Deutschen so sprechen können, dass viele daran anknüpfen können. Ein anderer Ausdruck, der in Deutschland oft verwendet wird, ist „rassifizierte Gruppen“. Aber auch das ist am Ende ein technischer Begriff. Es ist eine Aufgabe für uns alle, Begriffe zu finden, die auch für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich sind. Auch für Leute, die sich nicht bereits intensiver mit diesen Themen auseinandergesetzt haben.

Spätestens seit dem NSU und Anschlägen wie denen von Hanau und Halle wird auch einer breiteren Mehrheit in Deutschland bewusster, dass es ein Problem mit Rassismus gibt. Die Beiträge in Ihrem Band stammen aber allesamt aus dem US-Raum. Gibt es keine relevanten akademischen Beiträge zum Thema im deutschsprachigen Raum?

MARTINEZ MATEO: Das war eine bewusste Wahl. Das, was sich Critical Philosophy of Race nennt, meint ja eine spezifische Diskussion, die sich in erster Linie im US-Raum und innerhalb der Philosophie abspielt. Das heißt natürlich nicht, dass nicht auch außerhalb der USA über Rassismus nachgedacht würde. Es gibt viele Autor:innen aus dem afrikanischen oder auch europäischen Raum, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen. In unserem Reader stellen wir aber philosophische Diskussionen aus dem US-Raum vor, das verstehen wir in gewisser Weise auch als Intervention in die deutsche Philosophie.

Inwiefern?

MARTINEZ MATEO: Weil das Thema hier in Deutschland bis vor kurzem nicht wirklich so wahrgenommen wurde, als hätte die Philosophie dazu etwas beizutragen. Die Texte des Readers wurden in der deutschen Philosophie bisher einfach kaum wahrgenommen. Das heißt nicht, dass es in Deutschland keine Personen mit philosophischer Ausbildung gäbe, die über Rassismus nachdenken, doch sind diese lange kaum in der Philosophie sichtbar gewesen. Insofern gibt es hier zwar schon seit langer Zeit Diskussionen über Rassismus, doch stellt sich die Frage, welche Stimmen wo und auf welche Weise gehört werden und welchen Platz Personen, die von Rassismus betroffen sind, in der deutschen akademischen Welt und institutionellen Philosophie einnehmen.

Wenn man im US-Kontext über Rassismus spricht, ist meist in erster Linie von anti-Schwarzem Rassismus die Rede. Auch in Deutschland spielt das eine Rolle. Aber hier treten etwa auch Antislawismus oder antimuslimischer und antipalästinensischer Rassismus in den Vordergrund. Sind die Diskussionen des Readers auf den deutschen Kontext übertragbar?

MARTINEZ MATEO: Ich denke nicht, dass sie direkt übertragbar sind. Das muss aber auch nicht der Anspruch sein. Es kann auch einfach darum gehen, Ressourcen zum Verständnis von Rassismus zur Verfügung zu stellen. Die Frage ist dennoch wichtig: Denn zum einen gibt es ja dieses fest verankerte Vorurteil in Deutschland, es gäbe keine Schwarzen Deutschen. Ein Vorurteil, das übrigens lange das Nachdenken über Rassismus in Deutschland blockiert hat. Dementgegen muss man früher ansetzen und fragen: Wo kommt denn dieses Bild her, dass Deutschland weiß ist, und wie hängt dies mit spezifisch deutschen Formen von Rassismus zusammen? Zum anderen sind in Deutschland in der Tat andere Rassismen zentraler als in den USA. Viele Personen, die in Deutschland von rassistisch strukturierten Ausschlüssen betroffen sind, werden als weiß gelesen. Deshalb sind andere Kategorien erforderlich, die aus dem deutschsprachigen Kontext heraus entwickelt werden müssen.

In Fällen von Machtmissbrauch im Alltag überschneiden sich oftmals Kategorien wie race, Geschlecht, Mobilität, Sexualität. Inwieweit ist dieses Ineinanderwirken Bestandteil der Diskussionen des Readers?

MARTINEZ MATEO: Für diese wichtige Frage nach dem Zusammenwirken von verschiedenen Kategorien der Diskriminierung und Ausbeutung hat sich inzwischen der Begriff der Intersektionalität in einer breiteren Öffentlichkeit etabliert. Kimberlé Crenshaw, die diesen Begriff als erste vorgeschlagen hat, ist mit diesem „Gründungstext“ des Intersektionalitätsdenkens in unserem Reader vertreten. Crenshaw ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass die Diskussionen der Critical Philosophy of Race zwar primär in der Philosophie verortet sind, zugleich aber viel auf Ansätze rekurrieren, die aus anderen Disziplinen stammen – etwa, wie bei Crenshaw, aus der Rechtswissenschaft.

Die Kant’sche Geschichtsphilosophie ist durchzogen von rassistischem Denken. Auch bei Hegel und selbst bei Hannah Arendt finden sich problematische Stellen. Lässt sich in einer Disziplin wie der deutschen Philosophie, die von Rassismus so stark geprägt wurde, überhaupt objektiv und kritisch über Rassismus nachdenken?

LEPOLD: Blickt man in die Philosophiegeschichte, fällt auf: Rassistische Denkmuster spielen immer wieder eine Rolle. Gerade mit Blick auf Kant wurde und wird intensiv diskutiert, inwieweit sich das ablösen lässt vom Gehalt seiner Theorie. Das sind wichtige Debatten und wir müssen uns fragen: Wie können wir mit philosophischen Klassikern arbeiten, wenn wir über die problematischen Stellen immer nur peinlich berührt hinwegsehen? Es braucht hier mehr rassismuskritische Sensibilität. Gleichzeitig bietet die Philosophie auch ein ziemlich heterogenes Repertoire an Denkansätzen. Ich glaube, es wäre zu pauschal, der Philosophie im Allgemeinen Rassismus zu attestieren. Dennoch scheint mir wichtig zu betonen, dass die Philosophie insgesamt und auch in Deutschland nach wie vor eine sehr weiße Disziplin ist. Es ist daher auch nicht überraschend, dass bestimmte Fragen bisher eher vernachlässigt wurden. Wir müssen deshalb an inklusiveren philosophischen Institutionen und Diskussionen arbeiten.

In Ihrer Einleitung geht es auch um Ideen des „Afropessimismus“, wie sie von Saidiya Hartman oder Achille Mbembe eingebracht wurden. Worum geht es genau?

MARTINEZ MATEO: Die Position des Afropessimismus ist geprägt von der Einsicht, dass Kolonialismus und Versklavung tief eingeschrieben sind in die westliche Moderne und aufklärerischen Werte und Normen. Rassismus prägt implizit auch die Funktionsweise unserer Institutionen, unser Denken und unser Verständnis etwa von Freiheit, Eigentum und Subjektivität – auch wenn er gar nicht sichtbar hervortritt. Darin liegt auch der Pessimismus begründet: Wenn Rassismus so tief sitzt und so fundamental weltstrukturierend ist, ist es natürlich sehr viel schwieriger, ihn zu überwinden.

Auch Antisemitismus wurde historisch durch „race“ konnotiert. Antisemitische Propaganda operiert – auch – mit rassistischen Parametern. Weshalb spielt Antisemitismus in Ihrer Text-Auswahl keine größere Rolle?

MARTINEZ MATEO: Ja, beim Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus haben wir den Eindruck, dass es noch viel zu diskutieren gibt. Es gibt offensichtlich einen Zusammenhang zwischen beidem, der von vielen rassismuskritischen Denker:innen gesehen und diskutiert wurde. Frantz Fanon etwa weist immer wieder darauf hin, dass die Analyse von Antisemitismus auch zum Verständnis von Rassismus beitragen kann. Geschichte, Erscheinungsformen und Funktionen von Rassismus und Antisemitismus sind miteinander verschränkt. Doch das konkrete Verhältnis differenziert und genau zu bestimmen, bleibt sehr schwierig. Um diese Differenziertheit zu erreichen, ist es, denke ich, wichtig, Unterschiede festzustellen, dabei aber nicht das eine gegen das andere auszuspielen.

LEPOLD: In der philosophischen Diskussion zu race in den USA spielt Antisemitismus eine eher geringe Rolle. Das ist überraschend, weil etwa Charles Mills, einer der Begründer des Felds der Critical Philosophy of Race, in seinem Klassiker „The Racial Contract“ Jüdinnen und Juden in die Kategorie der nicht-weißen, beziehungsweise nicht vollständig weißen Menschen mit aufnimmt. Aber das wurde in den Folgediskussionen nicht sehr prominent diskutiert.

2021 gab es in der deutschen Öffentlichkeit eine breite Auseinandersetzung über Erinnerungskultur. Es ging dabei etwa um die Frage, ob man Erinnerung an den Holocaust vertiefen kann, indem man sie mit der Erinnerung an die koloniale Gewaltgeschichte zusammendenkt. Was halten Sie von solchen Ansätzen?

LEPOLD: Wir haben diese Debatte natürlich verfolgt. Aus Perspektive der Critical Philosophy of Race lässt sich dazu beitragen, dass das Erinnern bei der Bewusstwerdung, aber auch bei der Etablierung und Reproduktion rassistischen Denkens eine Rolle spielt. Dabei ist wichtig: Erinnern zum Beispiel tun wir nicht individuell. Wir organisieren es gesellschaftlich. Zum Beispiel beschließen wir, dass in der Schule bestimmte Sachen gelehrt oder nicht gelehrt werden. Eine These von Charles Mills besagt, die Tatsache, dass wir als weiße Menschen so wenig über Rassismus, Kolonialismus, Versklavung wissen, liege auch an unseren kollektiven Praktiken der Erinnerung. Es ist das, was unser „weißes Nichtwissen“ essenziell prägt. Ich persönlich denke, es ist höchste Zeit, dass im deutschen Kontext auch über den Ort von Kolonialismus in der deutschen Geschichte debattiert wird und darüber, welche kollektiven Erinnerungspraktiken dem gerecht werden können.

In dem Band versammeln Sie Beiträge von Vertreterinnen des sogenannten Eliminitavismus, die die These vertreten, so etwas wie race gebe es nicht. Was sind da die gegensätzlichen Positionen? Welchen Einfluss könnten sie auf deutsche Debatten haben?

LEPOLD: Der Eliminitavismus, der unter anderem von Kwame Anthony Appiah, aber auch von Naomi Zack vertreten wird, sagt: Weil es „Rassen“ nicht gibt, sollten wir schlicht aufhören, davon zu sprechen. Das kann man in Deutschland ganz gut in der Grundgesetzdebatte gespiegelt sehen, wo die Kritik lautete: Wenn wir mit dem Begriff „Rasse“ operieren, rufen wir eine rassistische Vorstellungswelt auf und leisten das Gegenteil davon, was wir wollen – lasst uns den Begriff also einfach streichen.

Wie lautet denn Ihre Position?

LEPOLD: Wir würden grundsätzlich sagen, dass die eliminitavistische Position nicht ausreicht. Wir brauchen Begriffe, um über rassistische Realitäten zu sprechen. Daher vertreten wir eine sozialkonstruktivistische Position. Wir denken, dass race etwas ist, das – leider – sehr wohl existiert. Es gibt schließlich Menschen, die rassifiziert und abgewertet werden.

MARTINEZ MATEO: Man muss dabei auch im Blick behalten, dass sich die sozialkonstruktivistische Position dadurch auszeichnet zu sagen: Auch wenn „Rasse“ eine Fiktion ist, gibt es race. Einfach darauf zu beharren, dass es race nicht gibt, ist letztlich auch nur eine weitere Weise, tatsächliche soziale Ungleichheit und Benachteiligung zu verschleiern.

Was würden Sie sich erhoffen, wie wir in Zukunft anders über race und Rassismus sprechen?

LEPOLD: Zunächst würde ich mir erhoffen, dass es eine größere Offenheit für diese Diskussionen gibt. In der deutschen Öffentlichkeit und im Feuilleton gibt es oft einen Reflex, das Ganze als eine Art Angriff zu verstehen. Häufig bekommt man jedoch den Eindruck, dass Leute sich gar nicht genau damit auseinandergesetzt haben. Ich würde mir daher wünschen, dass überhaupt eine Auseinandersetzung stattfindet. In der jüngsten Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung stimmen knapp 47% der Befragten mindestens teilweise der Aussage zu, Schwarze Menschen seien zu empfindlich, wenn es um Rassismus in Deutschland geht. Ich glaube, viele weiße Menschen in Deutschland haben das Gefühl, über alles bereits geredet zu haben. Aus unserer Sicht hat das Gespräch darüber allerdings noch gar nicht richtig angefangen.

MARTINEZ MATEO: In Deutschland gab es von afrodeutscher und migrantischer Seite immer wieder Versuche, die genannten Fragen zu diskutieren. Ihre Stimmen sollten in der Öffentlichkeit mehr Platz finden. Konkret erhoffen wir uns mit dem Reader, Begriffe zur Verfügung zu stellen, die ein differenzierteres, aber auch dichteres Verständnis von Rassismus in Deutschland fördern.

Critical Philosophy of Race: Ein Reader, Suhrkamp Verlag, 332 S., 26 Euro

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.