Schach-WM 2021 - Die Videoanalyse zur siebten Partie von Nepomnjaschtschi und Carlsen Nach dem ersten Sieg von Magnus Carlsen bei der Schach-WM 2021 bringt Jan Nepomnjaschtschi erst einmal Ruhe ins Spiel. Die Analyse im Video © Foto: privat/​Sebastian Lock

Schachweltmeisterschaften gibt es seit 1886 und insofern ragt der Rekord, den Magnus Carlsen und Jan Nepomnjaschtschi am Freitag in Dubai aufgestellt haben, aus einer besonders langen Zeitspanne heraus. Sie spielten die längste WM-Partie in 135 Jahren: 136 Züge.

Früher hätte man nach so einer Großtat wohl erst einmal zusammen einen Cognac getrunken oder eine Zigarre geraucht und sich ein paar Tage ausgeruht. Zeit war im 19. Jahrhundert reichlich vorhanden. Carlsen und Nepo haben dieses Privileg nicht. Nach ihrer Partie, die am Freitag begonnen hatte und bis nach Mitternacht dauerte, sieben drei Viertel Stunden lang, müssen sie am Nachmittag des angebrochenen Tages gleich wieder ans Brett.

Das ist das 21. Jahrhundert, da geht es Schlag auf Schlag. Jedenfalls gefiele das dem Publikum. Am besten Carlsen würde gleich noch einen Sieg folgen lassen, oder Nepo nähme sofort Rache. Action!

Aber so eine Marathonpartie stecken selbst diese Kaliber nicht einfach weg. Und wenn sie das Gegenteil behaupten, was sie tun, muss man es ihnen nicht glauben.

Nepo ist Russe. Seine Karriere fußt auf der großen Tradition der russischen Schachschule, deren goldene Regel lautet: Wenn du verlierst, spielst du erst einmal ein Unentschieden, ein Besinnungsremis. Nepo hat am Freitag seine Chancen gehabt und verpasst, dann ist er ins Wanken geraten und gestürzt. Am Samstag gilt es, erst einmal wieder in den sicheren Stand zu kommen. Gerade aus der Emotion heraus ließe sich ja viel verderben und wie schade wäre das.

So legt Nepo die siebte Partie an wie die fünfte, in der er mit den weißen Steinen in einer Spanischen Eröffnung etwas besser stand, einen leichten Druck hatte, in keiner Gefahr sich befand.

Auch Carlsen wählt dieselben Züge wie in der fünften Partie; diesmal erspart er seinem Gegner eine verblüffende Neuerung. Lass Nepo kommen, scheint er sich zu sagen, und Nepo kommt ein ganz klein wenig: Statt des spaniertypischen Damenläuferbauernzuges nach c3 spielt er den Damenbauern nach d3. Davon fällt niemand tot um; wir sind im Reich der Nuancen, der Minimalismen.

Carlsen mag aus drei Gründen vorsichtig sein. Zum einen hat er einen Punkt mehr, wozu etwas überstürzen? Sollten alle weiteren Partien remis enden, bliebe er Weltmeister. Zum zweiten hat er Schwarz, und Schwarz ist die Farbe der Demut im Schach. Man hinkt dem Weißen einen halben Zug hinterher, da wird jede Kühnheit schnell zur Torheit.

Und drittens gibt es in der WM-Geschichte ein abschreckendes Beispiel für hormonellen Übermut. Als im Mai 2012 in Moskau der Inder Viswanathan Anand seinen Titel gegen den weißrussischen Israeli Boris Gelfand verteidigte, da verlor Anand nach sechs quälenden Unentschieden die siebte Partie. Gelfand, im Grunde ein besonnener Mann, der aber vielleicht zu lange auf sein Recht zur Herausforderung hatte warten müssen, wollte am nächsten Tag den Sack zumachen und das noch mit Schwarz. Seine Partieanlage war so roh wie ein Dashcam-Video aus dem russischen Straßenverkehr. Auch diese Begegnung ging in die Schachgeschichtsbücher ein: als kürzestes Spiel der WM-Historie, 17 Züge, Aufgabe Gelfand. Es war, um mit Kafka zu sprechen, als sollte die Scham ihn überleben. Den WM-Kampf verlor er.