In der Nacht nach der großen Explosion von Beirut sitzt eine alte weißblonde Dame auf den eben noch malerischen Treppen des Stadtteils Mar Mikhael und schaut auf das, was von ihrem Leben übrig ist. Im Eingang ihres Hauses, einer wuchtigen Villa, die hundert Jahre alt sein mag, liegen die zerborstenen Türen.

Wie es ihr gehe? – "Mein Mann ist verletzt, er liegt im Krankenhaus. Vor zwei Monaten erst hatte er eine Operation am offenen Herzen. Und schauen Sie, mein Hausmädchen!", weist sie auf die afrikanische Frau neben ihr, deren weißes T-Shirt am Rücken tiefbraun von ihrem eigenen Blut ist. Dann kommt der erwachsene Sohn über die Türreste gestiegen: "Kommen Sie rein, dann sehen Sie es selbst!" 

Er zeigt auf die blutigen Fingerabdrücke an der Tapete im Flur – "von meinem Vater!" Leuchtet dann mit seiner Handylampe einmal von rechts nach links und von unten bis nach oben unter die hohe Stuckdecke das Wohnzimmer aus. Totale Zerstörung in der vormals guten Stube. Nichts ist hier heil geblieben.

Dann steigen die drei die Stufen hinab, um ihr Zuhause auf unbestimmte Zeit zu verlassen. Vielleicht für immer. Der Balkon samt der einst schön geschwungenen, schmiedeeisernen Balustrade ist vor das Haus auf die Straße gestürzt, auf ein Auto, Modell oder Marke nicht mehr erkennbar.

Vor allem Glasscherben, überall

Beirut Dienstagnacht, in den Stunden nach der Riesendetonation im Hafen, erinnert an die Bilder vom New Yorker Ground Zero. Trümmer, Ziegel, Staub und Glasscherben, vor allem Glasscherben, überall.

Blau- und Rotlichtblinken in der Dunkelheit. Auch einzelne Scheinwerfer, wo Suchmannschaften besser ausgerüstet sind. Der Soundtrack: das Plärren von Alarmanlagen und Sirenen. Schreie. Und einzelnes Wimmern unter Trümmern. Auf den Straßen viele blutige, humpelnde und stolpernde Menschen. Verheerung Häuserblock für Häuserblock, Viertel für Viertel. Es wirkt wie die Apokalypse.

Zunächst war im Hafen, der direkt neben der östlichen Innenstadt liegt, ein stark rauchender Brand ausgebrochen. Etwa eine halbe Stunde später, berichteten Augenzeugen, dann das eigentliche Inferno, als eine gewaltige Explosion eine zerstörerische – und noch im 200 Kilometer entfernten Zypern zu spürende –Druckwelle durch die Stadt jagte. Danach stand dicker orange-schwarzer Rauch kilometerhoch über der Stadt. Beißende Dämpfe zogen durch die zerstörten Straßen. 

Am frühen Mittwochmorgen berichteten die libanesischen Behörden von mindestens 73 Toten und 3.700 Verletzten, später ist von 4.000 die Rede. Der Regierung zufolge könnten 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat explodiert sein. Ein politischer Anschlag wurde vorher ausgeschlossen. Auch erklärten israelische Stellen deutlich, nicht verantwortlich zu sein.

Ein Sprecher des libanesischen Ministerpräsidenten Hassan Diab sagte, das Material, das auch zur Herstellung von Sprengstoff verwendet werden kann, sei seit sechs Jahren ohne Vorsichtsmaßnahmen im Hafen gelagert worden. Die Verantwortlichen sollten "zur Rechenschaft gezogen" werden. Staatspräsident Michel Aoun verlautbarte auf Twitter, diese Art der Lagerung sei "inakzeptabel".

Opfer des Versagens der eigenen Regierenden

Solche Anklagen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Libanesen wohl auch dieses Mal Opfer des Versagens ihrer eigenen Regierenden und Institutionen geworden sind.

Nachdem im vergangenen Oktober in vielen Landesteilen großflächige Waldbrände fast unbekämpft blieben und das Kabinett gleichzeitig neue Abgaben einführen wollte, um den Staatshaushalt zu retten, brach ein Massenaufstand los. 

Die politische Klasse saß diese sogenannte Revolution einfach aus, im Frühjahr kam ihr Corona zupass. Doch kürzlich beschleunigte sich der Kollaps des auf üppigen Zinsen, riesigen Schulden und Buchhaltungstricks aufgebauten Finanzsystems. Damit kam die Hyperinflation. Viele Libanesen verloren binnen Wochen einen Großteil ihres Vermögens.

Regierung und Parlament blockieren weiter, vor allem die Reformen, die als Bedingung für ein lebensnotwendiges Hilfspaket des Internationalen Währungsfonds (IWF) genannt wurden. Die Parteien beharren auf ihren Pfründen, das Volk soll bluten.

Die Libanesen litten schwer – bereits vor Dienstagabend. Immer mehr Menschen im Land, nicht nur unter den rund 1,5 Millionen syrischen Flüchtlingen, müssen hungern. Dass bei der Explosion im Hafen auch große Teile der Weizenvorräte des Landes zerstört wurden, könnte die Lage nun noch verschärfen.

Auch das Gesundheitssystem stand nicht nur wegen stark gestiegener Corona-Zahlen vor dem Zusammenbruch. Wie die Krankenhäuser jetzt mit den vielen, teils schwer verletzten Menschen klarkommen sollen, ist schwer vorstellbar.

Hilfe aus dem Ausland dringend nötig

Sicher ist, dass Hilfe aus dem Ausland notwendig wird. Selbst Israel sagte Unterstützung zu. Realistischer scheint aber, dass Frankreich dem eng verbundenen ehemaligen Mandatsland beispringt. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ Hilfsbereitschaft mitteilen. Die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer twitterte: "Wir werden dem Libanon unsere Unterstützung anbieten."

Vor allem aber werden die Libanesen sich wieder selbst helfen müssen. So wie Jade, ein 28 Jahre junger Mann, der nach der Detonation aus seiner Wohnung im Viertel Aschrafiyya nach Mar Mikhael herunterfuhr, um seinen Kumpel zu suchen. "Ich fand ihn im Treppenhaus seines Hauses, bewusstlos und schwer verletzt. Wir haben ihn schließlich mit irgendeinem Van weggebracht. Erst im dritten Krankenhaus hat man ihn aufgenommen. Ich weiß nicht, wie es ihm jetzt geht", erzählt er.     

Weit nach Mitternacht suchen Jade und seine Freundin Pia nun noch die Französische Bulldogge des Freundes zwischen den Trümmern, während in Sichtweite, im Hafen, weiter das Feuer lodert. Pia möchte keine weiteren Fragen beantworten: "Denn mein Land wurde heute in die Luft gesprengt."