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Meinung Viktor Orbán

Der Lieblingsautokrat von CDU und CSU

Viktor Orbán baut Ungarn zu einer Autokratie um. Trotzdem kooperieren CDU und CSU seit über zehn Jahren auf Europaebene mit seiner Partei. Gleichzeitig grenzen sie sich zu Hause scharf von Rechtspopulisten ab. Wie passt das zusammen?

In den letzten zehn Jahren haben CDU und CSU ein kleines aber schmutziges Geheimnis gehegt. Seit einem Jahr und insbesondere seit einigen Wochen ist dieses Geheimnis jedoch weder klein noch geheim, dafür aber umso schmutziger geworden: Obwohl die Unionsparteien zu Hause in Deutschland jegliche Form der Zusammenarbeit mit rechtspopulistischen Parteien wie der Alternative für Deutschland (AfD) entschieden ablehnen, kooperieren sie auf europäischer Ebene freimütig mit ebensolchen rechtspopulistischen und autoritären Kräften wie Viktor Orbán und seiner Fidesz-Partei – selbst wenn diese aktiv Demokratie und Rechtsstaat aushöhlen.

Die Doppelmoral der Union ist so schockierend wie offenkundig. Hierfür reicht es, den Kontrast zwischen der Wahl eines thüringischen Ministerpräsidenten in Erfurt und einer europäischen Kommissionspräsidentin in Straßburg zu betrachten.

Waren in Erfurt die Stimmen der AfD nötig, um Thomas Kemmerich – den Kandidaten der „bürgerlichen Mitte“ – zum Ministerpräsidenten zu wählen, so waren es in Straßburg letztes Jahr die 12 Stimmen der Fidesz im Europäischen Parlament, die der CDU-Kandidatin Ursula von der Leyen eine hauchdünne Mehrheit von neun Stimmen sicherten.

Die Reaktionen in der Union hätten verschiedener jedoch nicht sein können: Während auf die Wahl Kemmerichs binnen Stunden schärfste Distanzierungen aus der Unionsspitze folgten, die Kanzlerin davon sprach, das Ergebnis müsse „rückgängig gemacht werden“ und nach fünf Tagen sowohl der thüringische CDU-Fraktionschef Mike Mohring als auch die Bundesparteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer ihren Hut genommen hatten, feierte die Union die Wahl von der Leyens in einvernehmlichem Jubel.

Selbst wer meint, Parteien könnten auf verschiedenen Ebenen verschiedene Moralstandards anlegen, muss erklären, warum Europa weniger Prinzipientreue verdient als Thüringen.

Tatsächlich hat die Union die Büchse der Pandora mit ihrer Zusammenarbeit mit Fidesz in der Europäischen Volkspartei (EVP) schon vor geraumer Zeit geöffnet. Über zehn Jahre kooperiert die Union bereits mit Orbáns Partei eng in einer gemeinsamen „Europapartei“ und einer Fraktion im Europäischen Parlament, während die Fidesz zeitgleich Ungarn Schritt für Schritt zu einer Autokratie umbaut.

Die Union hatte zunächst einige zumindest plausibel klingende Gründe für eine Partnerschaft mit Orbán. Insbesondere argumentierte man, die Mitgliedschaft der Fidesz in der EVP könne einen moderierenden Einfluss auf die Fidesz haben. Dialog wirke stabilisierend oder könne sogar einen positiven Wandel hervorbringen.

Aber im Laufe der Jahre hat Orbán jede „rote Linie“ überschritten, die die EVP und ihr Führungspersonal, insbesondere der deutsche Christdemokrat Manfred Weber, für ihn festgelegt hatten.

Als er die akademische Freiheit untergrub und die Central European University (CEU) aus Budapest vertrieb, hielt man weiter zu ihm. Als er unabhängige Nichtregierungsorganisationen der Zivilgesellschaft angriff, hielt man weiter zu ihm. Als er Mittel fand, die meisten unabhängigen Medien auszuschalten, hielt man weiter zu ihm. Als internationale Organisationen wie Freedom House und das V-Dem-Institut erklärten, Ungarn sei keine Demokratie mehr, hielt man weiter zu ihm.

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Und selbst als vor wenigen Wochen mehr als ein Dutzend EVP-Mitgliedsparteien und Führungspersönlichkeiten von Belgien bis Griechenland den Ausschluss Orbáns und seiner Partei aus der EVP forderten, hielt man bei der Union lieber still und schloss sich dem Aufruf nicht an.

Fragwürdige Doppelmoral

Warum diese Doppelmoral? Warum akzeptieren Führungsspitze und Unionsbasis eine Partnerschaft mit einem rechtspopulistischen Autokraten auf EU-Ebene, lehnen jegliche Zusammenarbeit mit ähnlichen Kräften innerhalb Deutschlands aber strikt ab?

Die wahrscheinliche Antwort ist, dass eine wie-auch-immer-geartete Zusammenarbeit mit der AfD viele Wähler in Deutschland, auch eigene Anhänger, vergraulen würde, die Zusammenarbeit mit Orbán für die allermeisten Wähler aber keine Relevanz hat.

Tatsächlich fanden sich nach der Wahl Kemmerichs durch Stimmen der AfD tausende Menschen zu spontanen Demonstrationen – auch explizit gegen die CDU – zusammen und der mediale Sturm gegen die CDU kannte kaum Grenzen.

Nichts von alledem begleitete die Wahl von der Leyens oder irgendeinen Stoß Orbáns gegen Demokratie und Rechtsstaat in Ungarn. Es ist aber höchstwahrscheinlich kein Zufall, dass der Moment, in dem die Union sich am stärksten von Fidesz distanzierte – als man im März 2019 zusammen mit anderen eine Suspendierung von Fidesz Parteimitgliedschaft in der EVP erwirkte – ausgerechnet in die Zeit des Europawahlkampfs mit Manfred Weber als eigenem Spitzenkandidaten fiel. Plötzlich war die, wenn auch kleine, Angst vor dem Wähler da.

Nichtsdestotrotz ist das Bewusstsein der Wähler für die Funktionsweise der „Europaparteien“ und das Treiben der eigenen nationalen Parteien auf europäischer Ebene gering. Nur wenige wissen, dass die Unionsparteien zu den schwergewichtigsten Verteidigern Orbáns zählen.

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Im Gegenzug sichert Orbán mit seinen Stimmen politische Mehrheiten im Europäischen Parlament und Europäischen Rat für die Christdemokraten ab.

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Solange die Wähler in Deutschland Kooperation mit einem Viktor Orbán nicht annähernd so verwerflich finden wie mit einem Björn Höcke, hat der Teufelspakt mit Orbán für die Union nur politische Vorteile und keinerlei spürbare Kosten. Zwar gibt es Stimmen innerhalb der Union, die Orbáns Ausschluss aus der EVP und einen Bruch fordern, aber sie sind bisweilen eine Minderheit.

Umgekehrt darf man getrost annehmen, dass CDU und CSU derzeit das Zünglein an der Waage für einen Ausschluss der Fidesz aus der EVP sind. Ein Bruch mit Orbán würde es nicht nur ermöglichen, entschiedene rechtliche Schritte gegen die Regierung einzuleiten – beispielsweise ein schnelles Vertragsverletzungsverfahren gegen eine Reihe fragwürdiger Gesetze, initiiert durch die von von der Leyen geführte Europäische Kommission. Er würde auch ein wichtiges Signal an andere autokratische Kräfte senden, dass sie die starke europäische Christdemokratie gegen sich haben.

Der Schaden der öffentlichen Legitimierung Orbáns durch die Union – man denke nur an die CSU-Parteiklausur mit „unserem Freund Viktor Orbán“ in 2018 – ist schon vor Jahren angerichtet worden, aber ohne einen Kurswechsel der Union wächst er weiter von Tag zu Tag.

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Vorerst aber bleiben die Autokraten-Beschwichtiger innerhalb der Union dominant. Vor 70 Jahren wurde das europäische Projekt von deutschen Christdemokraten wie Konrad Adenauer ins Leben gerufen.

Heute ist die „Toleranz“ von CDU und CSU gegenüber Autokraten in der EU – oftmals sogar ihre aktive Unterstützung – eine der größten Gefahren für das Überleben des europäischen Projekts. Es ist höchste Zeit für die Union zu beweisen, dass ein Autokrat wie Orbán keinen Platz in einer demokratischen Mitte-Rechts-Partei hat.


R. Daniel Kelemen (l.), Professor für Politik und Recht, Rutgers University; Christopher Wratil, Assistenzprofessor Politik, University College London
R. Daniel Kelemen (l.), Professor für Politik und Recht, Rutgers University; Christopher Wratil, Assistenzprofessor Politik, University College London
Quelle: privat/ Minda de Gunzburg Center for European Studies, Harvard University


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