Eine Anfrage im Deutschen Bundestag hat gezeigt, dass mehr als jeder zehnte Deutsche einsam ist. Das Rote Kreuz spricht von einer "Epidemie im Verborgenen". Eine Gruppe, die besonders von Einsamkeit betroffen ist sind Managerinnen und Manager. Jede zweite Führungskraft fühlt sich laut einer Studie sozial isoliert. Weshalb das so ist und was Unternehmen dagegen tun können, erklärt der Psychiater Christian Dogs.

ZEIT ONLINE: Herr Dogs, Sie haben in Ihrem Berufsleben über 150 Topmanager behandelt. Sind Managerinnen und Manager einsamer als der Rest der Gesellschaft?

Dogs: Definitiv, und je höher Manager kommen, desto einsamer werden sie. Meine Praxiserfahrung zeigt: Das fängt beim mittleren Management an, von dem immer mehr Mobilität im Geschäftsleben verlangt wird. Da reden wir dann über die einsamen Manager an der Hotelbar, die umgeben sind von vielen Menschen, aber doch sehr allein. Das geht weiter bei Vorständen, die keinem mehr trauen können und viel schlimmer: sich niemandem mehr anvertrauen können, auch wenn sie sich ständig in großen Gesellschaften bewegen. Das macht einsam hinter dieser geselligen Fassade. Ich habe schon Vorstandsvorsitzende beraten, deren einziger echter Gesprächspartner ich war. Die gesundheitlichen Folgen sind fatal.

Christian Dogs ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er war 20 Jahre lang Leiter der Panorama-Fachklinik in Scheidegg (Allgäu) und hat 150 Topmanager behandelt und beraten. © Christian Dogs

ZEIT ONLINE: Macht Erfolg also krank?

Dogs: Erfolg kann krank machen, das beobachte ich bei meinen Klienten seit vielen Jahren. Besonders dann, wenn die Karriere schnell und steil verläuft. Häufig ist die Entwicklung der Persönlichkeit und die emotionale Kompetenz viel langsamer als der berufliche Aufstieg. Dann werden sie in die ständige Überforderung befördert und versuchen, die Diskrepanz zwischen der wirklichen Leistungsfähigkeit und dem geforderten Arbeitsprofil zu überspielen. Das kostet ungemein viel Kraft. Ohnehin legen viele der von mir betreuten Managerinnen und Manager bei den 80-Stunden-Wochen und dem enormen Druck kaum Wert auf ihre psychische Gesundheit. Dazu die Einsamkeit, die enorme Auswirkungen auf das Wohlbefinden hat.

ZEIT ONLINE: Wird auf der Managerebene darüber gesprochen?

Dogs: Nein, ganz im Gegenteil. Bei Unternehmern ist das Tabu, über Einsamkeit und Schwächen zu sprechen, noch größer als in der restlichen Gesellschaft. Ich rate keinem Manager, darüber öffentlich zu reden. Auch, wenn sie dadurch menschlicher werden würden, aber das System verzeiht keine Schwäche. Sowohl innerhalb der Konzerne als auch in der Öffentlichkeit.

ZEIT ONLINE: Was passiert, wenn Managerinnen und Manager trotzdem Schwäche zeigen?

Dogs: Das schadet ihnen enorm. Ich erinnere mich noch gut an Harald Krüger, ehemaliger Vorstandsvorsitzender von BMW. Dass er auf der Automobilmesse einen Schwächeanfall erlitt, wurde ihm bis zum Ende seiner Karriere nachgetragen. Es gab immer und überall Spekulationen über seinen Gesundheitszustand. Und für jeden war klar, dass er ungern vor vielen Menschen spricht.

ZEIT ONLINE: Beobachten Sie dabei einen Unterschied zwischen Chef und Chefin?

Dogs: Nein. Frauen können genauso wenig zu ihren Schwächen stehen wie Männer. Das ist geschlechtsunspezifisch. Früher hieß es oft, dass sich Frauen vermännlichen müssen, wenn sie erfolgreich sein wollen. Doch in Wahrheit geht Karriere unabhängig vom Geschlecht nur, wenn man verhärtet und verdrängt. 

ZEIT ONLINE: Welche Auswirkungen hat Einsamkeit auf ihr Arbeitsleben?

Dogs: Manager sind kompetente Fachleute, doch oft fehlt ihnen die soziale Kompetenz, die Fähigkeit zur Empathie und auf Menschen zuzugehen. Viele dieser Führungskräfte kennen ihre eigene Gefühlswelt nicht. Das ist gefährlich, vor allem, weil uns die Forschung zeigt, dass die meisten Entscheidungen im emotionalen Teil unseres Gehirns getroffen werden. Es ist also nicht nur ungesund, sondern auch geschäftsschädigend, wenn sich Führungskräfte nicht mit ihren Gefühlen befassen, aber Entlassungen, Investitionen und neue Strategien beschließen.

"Sie blenden Konflikte emotional völlig aus, um als Führungskraft funktionieren zu können."
Christian Dogs, Psychiater

ZEIT ONLINE: Sind Frauen oder Männer in Führungspositionen einsamer?

Dogs: Frauen sind häufig nicht so einsam wie Männer. Sie sind besser sozialisiert und haben bessere Bindungen zu wenigen guten Freundinnen. Sie halten diese Beziehungen auch, wenn sie Karriere machen. Männer sind nach wie vor Höhlenmenschen und ohne ihre Frauen oft sozial isoliert.

ZEIT ONLINE: Sie behandeln Managerinnen und Manager nicht nur im Büro oder in der Praxis, sondern begleiten sie auch nach Hause. Was erleben Sie dort?

Dogs: Häufig Lebenslügen. Oft erzählen Manager in langen Gesprächen, dass zu Hause alles wunderbar sei. Wenn ich sie dann in den eigenen vier Wänden besuche, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Das Kind ist emotional vernachlässigt, die Frau unglücklich. Und das Schlimmste: Es ist ja nicht so, dass sie das nicht wahrnehmen wollen, sondern sie können es nicht. Sie blenden Konflikte emotional völlig aus, um als Führungskraft funktionieren zu können. Andere verdrängen sie, weil die Fassade funktionieren muss. Darunter leiden die Familien und Ehen.

ZEIT ONLINE: Haben Sie ein Beispiel?

Dogs: Ich habe mal einen sehr erfolgreichen Unternehmer behandelt. 49 Jahre alt, verheiratet, drei Kinder. Er ging morgens um sieben zur Arbeit, kam abends nie vor 21 Uhr nach Hause. Und wenn er da war, saß er oft am Handy oder am Computer. Das Haus und die Kinder wurden durch Personal betreut, weil auch die Ehefrau eine erfolgreiche Firma aufgebaut hatte. Zwischen dem Paar gab es jahrelang keine Zärtlichkeit, beide waren auf die Karriere fokussiert und lebten nebeneinander her. Die Kinder wurden sozusagen nebenbei erwachsen. Als sich dann herausstellte, dass die Mutter eine Affäre hatte, brach alles zusammen. Ihr gemeinsamer Sohn warf sich in der Nacht vor einen Zug, sein Vater wurde depressiv. Niemand in der Familie hatte gelernt, zu kommunizieren.