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"Ungeheuerliche Ausbeutung" Was für eine Ironie: Geduldete Flüchtlinge sollen deutschen Bauern die Ernte retten

Hilfskraft auf einem Spargelhof in Hessen
Hilfskraft auf einem Spargelhof in Hessen: Die Landwirte haben aufgrund der Coronakrise nicht genug Saisonarbeiter 
© Andreas Arnold/DPA
Auf deutschen Feldern fehlen wegen der Coronavirus-Pandemie rund 300.000 Erntehelfern. In der Krise erinnert sich die Politik an Asylbewerber, denen sie Arbeit seit Jahren verweigert. Eine zynische Maßnahme, findet unser Autor.

Der britische Moralphilosoph und Oxford-Professor Roger Crisp rät in einem aktuellen "Spiegel"-Interview den Regierungen zu einer kühlen Ethik der Vernunft in der Krise. Als führender Utilitarist bezieht er sich auf die Lehre einer zweckorientierten Ethik, die besagt, dass Entscheidungen daran gemessen werden sollten, ob sie der größtmöglichen Zahl von Menschen das größtmögliche Wohlbefinden garantieren.

Crisp mag ein allzu kalter Analytiker sein, der zum Beispiel in medizinischer Notlage der jüngeren Bevölkerung den Vorzug gegenüber älteren Patienten geben würde, wie er sagt. Aber es gibt auch Themen, die selbst ihn an seine Grenzen bringen. "Ist es aus ihrer Sicht vertretbar", fragt ihn der "Spiegel"-Redakteur, "dass für Flüchtlinge aus Syrien und anderen Staaten nun praktisch alle Grenzen geschlossen sind?" Und Crisp antwortet: "Ich denke, jeder Mensch, der noch über Anstand und Moralvorstellungen verfügt, wird sehen, dass Flüchtlinge in den vergangenen 20 Jahren absolut entsetzlich behandelt wurden." Dies sollten nicht nur Utilitaristen feststellen: "sondern wir alle."

Flüchtlinge: Erntehelfer für beschränkte Zeit

Crisp hat recht. Insofern darf es auch nicht weiter verwundern, dass die Politik auf der verzweifelten Suche nach Erntehelfern nun mit einem besonders zynischen Zug die Wende herbeiführen möchte: Bundesagrarministerin Julia Klöckner dringt plötzlich auf den Einsatz von Asylbewerbern in der Landwirtschaft – auch solchen, die bislang ein Beschäftigungsverbot hätten, solle kurzfristig eine Arbeitsaufnahme ermöglicht werden.

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Annette Widmann-Mauz, schlägt in die gleiche Kerbe: "Jetzt wird jede helfende Hand gebraucht", so die Staatsministerin. "Deshalb ist es richtig, wenn wir jetzt Asylbewerbern und Geduldeten befristet ermöglichen, als Erntehelfer oder in der Lieferkette zu arbeiten." So zynisch muss man erst einmal argumentieren können, wenn man offiziell mit dem Thema Integration beauftragt ist.

In Bayern sind sie, wie so oft in diesen Corona-Tagen, schon einen Schritt weiter. Innenminister Joachim Herrmann hat im Freistaat bereits grünes Licht für die Maßnahme gegeben: Sowohl Asylbewerber im laufenden Verfahren als auch bereits abgelehnte Asylbewerber sollen dort auf den Feldern loslegen dürfen. Aber natürlich versäumte Herrmann nicht den ausdrücklichen Hinweis, dass entsprechende Beschäftigungserlaubnisse nur zeitlich beschränkt für die Zeit der Erntehilfe erteilt würden.

Eine moralisch verwerfliche Maßnahme

Klar ist: Weil sie wegen der Corona-Pandemie nicht aus dem Ausland einreisen dürfen, fehlen in Deutschland zurzeit rund 300.000 Erntehelfer. Klar ist auch: Unbürokratische Lösungen sind zurzeit nicht nur unumgänglich, sondern oft auch sinnvoll. Und grundsätzlich ist es ohnehin begrüßenswert, wenn zum Beispiel Flüchtlingen der Zugang zur Arbeit erleichtert werde.

Allein die Umstände und die Art und Weise rechtfertigen jede Kritik: Der bayrische Flüchtlingsrat spricht von einer "ungeheuerlichen opportunistischen Ausbeutung", da viel geduldete Geflüchtete seit Jahren vergebens darum kämpfen würden, arbeiten zu dürfen oder eine Ausbildung anzufangen. Und tatsächlich: Herrmanns Hinweis auf die zeitliche Beschränkung der Arbeitserlaubnis grenzt in dem Zusammenhang fast schon an Verhöhnung.

Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund hat in Nordrhein-Westfalen bereits Arbeitsschutzstandards und den gesetzlichen Mindestlohn in der Debatte angemahnt. Denn auf der vom Bundeslandwirtschaftsministerium eingerichteten und von Klöckner so gelobten Plattform www.daslandhilft.de werde der Eindruck erweckt, dass oben genannte Kriterien in der Corona-Krise nicht gelten – ihre Einhaltung sei aber nicht obsolet, "ganz gleich ob es um osteuropäische Saisonarbeiter oder – wie jetzt in der Diskussion – um Geflüchtete oder andere angeworbene Kräfte gehe." Was für eine Ironie: Geduldete Flüchtlinge, denen die Arbeitserlaubnis bislang verweigert wurde, werden bald auf den Feldern stehen, um deutschen Bauern die Ernte zu retten – weil sich keine geeigneten Helfer im eigenen Land finden. Eine Pointe, die zeigt, wie kurzfristig die Politik in der Krise manche Maßnahme möglich macht – und sei sie noch so moralisch verwerflich wie diese.

Die Flüchtlinge wird es nicht weiter wundern. Schlechte Behandlung sind sie seit vielen Jahren gewohnt. Das weiß nicht nur Roger Crisp. Sondern wir alle.

Quellen: "Der Spiegel"

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