Wer zum ersten Mal Sex hat, verliert seine Unschuld. Der Penis dringt ein oder penetriert. Frauen haben Schamlippen, Schamhaare, ein Schambein. Wer im Deutschen über Sex spricht, muss oft auf Begriffe zurückgreifen, die nach Beschämung klingen oder militärisch anmuten.

Heinz-Jürgen Voß ist Professor für Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg. Er erklärt, woher diese Begriffe kommen. Und sagt: Die Gesellschaft muss anders über Sex sprechen – für mehr Lust, Selbstbestimmung und Gewaltprävention. 

ZEIT Campus ONLINE: Herr Voß, ich betrachte mich als aufgeschlossen und spreche gern über Sex und meinen Körper. Allerdings ärgere ich mich oft, dass es keine schöneren Worte dafür gibt. Woran liegt das?
Heinz-Jürgen Voß: Im europäischen Kontext gibt es viele problematische Begriffe zu Sexualität. Das Christentum mit seinem Beichtgeheimnis prägt uns bis heute. Durch die Beichte wurde das Reden über Sexualität zwar massiv angeregt – darauf hat zum Beispiel Michel Foucault hingewiesen. Doch dieses Reden geht auf die Idee von Sexualität als Sünde zurück. Im Deutschen ist das Wort Scham für den weiblichen Genitalbereich besonders präsent.

ZEIT Campus ONLINE: Der Begriff Schamlippen lässt mich erschaudern. Ich habe sogar das Gefühl, dass er mein Körpergefühl eine Zeit lang negativ beeinflusst hat.

Voß: Solche Begriffe machen natürlich etwas mit der Wahrnehmung – Sprache bleibt nicht wirkungslos. Verstärkt wird das durch weitere Reglementierung. Damit meine ich zum Beispiel ästhetische Standards aus der Pornografie, die vorgeben, wie das weibliche Geschlechtsorgan angeblich aussehen soll. Positive Begriffe sind aber wichtig, um das Körper- und Selbstbewusstsein herauszubilden.

ZEIT Campus ONLINE: Welche Begriffe könnten das sein?

Voß: Das Wort Vulva wird ja in den letzten Jahren populärer, in feministisch-emanzipatorischen Kontexten wird das Wort Vulvinchen diskutiert – für die Verwendung in Kinderbüchern oder bei Kunstprojekten. Zu den Schamlippen könnte man alternativ innere und äußere Lippen sagen. In jedem Fall gilt: Man sollte kreativ an die Entwicklung neuer Sprachhandlungen herangehen.

ZEIT Campus ONLINE: Die Journalistinnen und Wissenschaftlerinnen Gunda Windmüller und Mithu Sanyal haben 2018 eine Petition gestartet, der Titel: "Weg mit der Scham: Vulvalippen in den Duden!" Über 36.000 Menschen haben bisher unterschrieben. Kann man Sprache so gezielt verändern? 

Voß: Da die Petition darauf ausgelegt war, Öffentlichkeit herzustellen, kann sie durchaus Erfolg haben. Das Prinzip des Duden ist ja, dass ein Wort aufgenommen wird, wenn es im Sprachgebrauch häufig genug vorkommt. Daran sollten wir alle mitwirken. Man könnte das Wort Vulvalippen beispielsweise direkt in neues Bildungsmaterial aufnehmen. Da müsste sowieso im großen Stil viel Neues entwickelt werden.

ZEIT Campus ONLINE: Warum?

Voß: Schullehrbücher sind oft grottenschlecht, wenn es um die Beschreibung sexueller Akte geht. In Biologiebüchern für Jugendliche werden die männlichen Geschlechtsteile in der Regel ausführlich besprochen, die weiblichen hingegen auf männliches Verlangen hin funktionalisiert. Da heißt es dann zum Beispiel: In den Penis strömt Blut ein, er schwillt an – und die Vagina ist dazu da, den Penis aufzunehmen.

ZEIT Campus ONLINE: Genauso zutreffend wäre: Bei Erregung strömt Blut in die Klitoris, sie schwillt an. Warum wird darüber seltener gesprochen?

Voß: Männerdominanz hat unser Wissen und Sprechen über Sex geprägt. Deshalb kommen solche Beschreibungen der weiblichen Seite kaum vor. In den vergangenen Jahren haben feministische Bewegungen allerdings konkret eingefordert: Wir müssen über weibliche Sexualität sprechen, die kommt übrigens auch gut ohne Männer aus. Den eigenen Körper und seine Reaktionen zu erkunden und zu beschreiben, sind dabei ganz wichtige Elemente.