Wiesbaden, Plenarsaal des Landtags, am Dienstag vergangener Woche. "Hessen ist ein sicheres Land", sagt Innenminister Peter Beuth (CDU). Er stellt die aktuelle Kriminalstatistik vor. Die registrierten Straftaten sind insgesamt zurückgegangen, ein guter Tag für Beuth. "Erfolgreiche Sicherheitsbehörden" hat er seine Regierungserklärung überschrieben. 

Doch am Abend darauf fallen in Hanau Schüsse, am Ende sind zehn Menschen und der mutmaßliche Täter tot. Ein rassistisch motivierter Anschlag, schon wieder. Schon wieder in Hessen. Erst im Juni vergangenen Jahres war im Norden des Bundeslandes Regierungspräsident Walter Lübcke erschossen worden, mutmaßlich von einem Neonazi. Im Juli schießt ein Rassist auf einen Eritreer in Wächtersbach, nicht weit von Hanau. Der Mann wird schwer verletzt. Dann ist da noch die Spur eines rechtsextremen Drohfaxes eines "NSU 2.0" an eine Anwältin, die ausgerechnet in ein Frankfurter Polizeirevier führt. Und das sind nur die herausragenden Fälle der letzten Monate.

Warum immer wieder Hessen? Hat das Bundesland ein spezifisches Problem mit Rechtsextremismus und rassistischer Gewalt? Auch der Ministerpräsident muss nach Hanau diese Frage beantworten. "Ich glaube nicht, dass wir ein besonders Problem haben", sagt Volker Bouffier (CDU) am Donnerstagabend im ARD-Brennpunkt. "Wir haben im ganzen Land diese Probleme."

Sozialdemokrat Günter Rudolph sieht das etwas anders. "Das höre ich von der CDU seit Jahren", sagt der Geschäftsführer der SPD-Fraktion im Landtag im Gespräch mit ZEIT ONLINE. "Wir haben hier in letzter Zeit vermehrt rechtsextreme Vorfälle." Die schwarz-grüne Regierung habe das Ausmaß zu lange heruntergespielt, reflexhaft sei bei der CDU immer wieder "und der Linksextremismus" gesagt worden – ein Fehler. "Ich bin nicht sicher, ob genug getan wurde seit dem NSU", fügt Rudolph hinzu.

Bei Gewalttaten eher im unteren Bereich

Daran zweifelt auch Linkenfraktionsvorsitzende Janine Wissler. "Das Problem in Hessen ist, dass wir den NSU nicht aufgearbeitet haben, das hat zum Beispiel Thüringen besser gemacht", sagt sie ZEIT ONLINE. Behördenversagen werde bis heute unter dem Deckel gehalten.

Auf parlamentarischer Ebene versuchte ein Untersuchungsausschuss dem beizukommen. Eine fruchtbare fraktionsübergreifende Zusammenarbeit zwischen schwarz-grüner Regierung und Opposition gelang aber nicht – anders als etwa im Bundestag, wo mancher Abgeordnete seinerzeit ratlos nach Hessen blickte. Viele Fragen blieben unbeantwortet, etwa die nach möglichen lokalen Helfershelfern der Täter.

Das sei auch deshalb gefährlich, weil hessische Neonazis heute weiterhin gut vernetzt seien, etwa nach Nordrhein-Westfalen und Thüringen, sagt Wissler. Das Thema sei aber "jahrelang zum Ost-Problem erklärt" worden.

Zuletzt warnte auch das regelmäßig in die Kritik geratene Landesamt für Verfassungsschutz vor der Bedrohung von rechts. Hessische Sicherheitsbehörden verzeichneten einen Anstieg rechter Straftaten. Innenminister Beuth musste vergangene Woche auch davon berichten, dass 2019 insgesamt 917 Fälle registriert wurden, zumeist Propagandadelikte – aber ein Plus von 52 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Man verfolge die Taten "mit aller Entschlossenheit", teilte er mit, und verwies auf die neue "Besondere Aufbauorganisation Hessen R", die die Szene "gezielt unter Druck setzen" solle.

Legt man die polizeiliche Kriminalstatistik zugrunde, die aber nur wiedergibt, was den Behörden bekannt wird und wie diese die Tat einordnen, liegt Hessen bundesweit bei den Gewalttaten eher im unteren Bereich. Zumindest 2018, aktuellere Vergleichszahlen gibt es noch nicht. Auch bei einer Langzeitrecherche unter anderem der ZEIT zu Todesopfern rechter Gewalt waren Menschen in Hessen bislang im Vergleich weniger stark betroffen.