Seit der Tötung des iranischen Generals Kassem Soleimani durch die USA sind die Menschen im Iran in Aufruhr. Erst demonstrierten Hunderttausende Iranerinnen und Iraner in groß angelegten Trauermärschen vermeintlichen nationalen Zusammenhalt. Seit bekannt wurde, dass das iranische Regime für den Abschuss eines Passagierflugzeugs mit 176 Toten verantwortlich ist, gehen Tausende gegen das Regime auf die Straße. Die Menschen wollen einen Systemwandel, sagt der iranische Journalist Mani Zarabi – der Name ist ein Pseudonym zu seinem Schutz. Er schreibt für eine große reformorientierte iranische Zeitung und internationale Medien, hält sich derzeit außerhalb des Landes auf und hat die Fragen per Mail beantwortet.  

ZEIT ONLINE: Herr Zarabi, wir bekommen aus dem Iran gerade widersprüchliche Bilder: Viele Iraner feiern den getöteten Kassem Soleimani als Nationalhelden, andere verbrennen Bilder von ihm in aller Öffentlichkeit. Was passiert gerade im Iran?

Mani Zarabi: Hinter den Trauermärschen für Soleimani stand eine gewaltige Propagandamaschine. Sie sorgte dafür, dass selbst ausländische Medien den Eindruck bekamen, alle Iraner würden ihn als Nationalhelden verehren. Das Regime hat schnell verstanden, dass die Bilder einer in Trauer vereinten Nation stärker werden, je mehr Städte und Menschen sich an den Trauermärschen beteiligen. Schulen blieben geschlossen, auch der große Basar in Teheran, und es wurde eine dreitägige Staatstrauer verkündet. Das Staatsfernsehen feierte in immer wieder eingespielten Beiträgen Soleimanis Leistungen im Irak, in Syrien und im Jemen, ohne auch nur einen einzigen kritischen Bericht über ihn zu zeigen. Das Regime hat dieses Spektakel inszeniert, um von der blutigen Niederschlagung der Proteste im November abzulenken. Dabei wurden mehr als 1.000 Menschen umgebracht, Hunderte verletzt und Tausende festgenommen.

ZEIT ONLINE: Warum hat diese Propagandamaschine so gut funktioniert? 

Zarabi: Im Iran wurde über lange Zeit ein bestimmtes Image von Kassem Soleimani aufgebaut: Er sei ein Patriot, der sich unermüdlich für sein Land und sein Volk einsetzt. Viele normale Iraner und auch die Medien haben diese Erzählung unkritisch übernommen. In regionalen, aber auch internationalen Medien wurde Soleimani als Held dargestellt, der den "Islamischen Staat" bekämpft hat – und nicht als der Mann, dessen schiitische Milizen in Syrien Baschar al-Assad dabei geholfen haben, Hunderttausende Menschen umzubringen, um an der Macht zu bleiben. Vor allem den Kurden haben wir den Sieg gegen den IS zu verdanken, aber ihr Einsatz wurde nicht angemessen gewürdigt. Das iranische Regime wollte sich mit dem Kampf gegen den IS vor allem mehr Einfluss in der Region sichern. Ironischerweise rufen die Menschen nun "unser IS seid ihr", und sie meinen die geistigen Führer.

ZEIT ONLINE: Weil sie die Erzählung des Regimes von der Verteidigung gegen äußere Feinde nicht mehr glauben?

Zarabi: Ja. Das Narrativ der "nationalen Sicherheit" diente dazu, die öffentliche Meinung zu kontrollieren und den Zusammenhalt der Menschen zu stärken. Soleimani galt als wichtiger Bewahrer dieser nationalen Sicherheit. Das iranische Regime hat lange Zeit verleugnet, welche Rolle die von Soleimani geführte Kuds-Einheit etwa in Syrien spielte. Aber das iranische Volk wusste davon und war wütend darüber. Erst als der IS stärker wurde, gab die Führung zu, dass vom Iran gesteuerte Milizen in der Region tätig sind. Als Rechtfertigung für deren Einsatz wurden dann die eigenen Sicherheitsinteressen angeführt – statt zuzugeben, dass der Iran in vielen Ländern des Nahen Ostens vor allem eigene Machtinteressen durchsetzen will. 

ZEIT ONLINE: Seit einigen Tagen gehen Tausende Iraner auf die Straße, weil sie ebendiese Lügen und Vertuschungen satthaben. 

Zarabi: Zunächst: Proteste gegen das Regime gab es im Iran seit der Revolution 1979 immer wieder. In den Neunzigerjahren gab es mehrere Aufstände, nach den Präsidentschaftswahlen 2009 protestierten Anhänger der regimekritischen Grünen Bewegung, 2017 gab es erneut Proteste, zuletzt im vergangenen November. Wir sehen jetzt, wie frustriert die Menschen sind. Korruption ist weit verbreitet, das ganze System ist marode. Alle, auch die Reformer und Konservativen, sind verantwortlich für die jetzige missliche Lage. Die führenden Eliten sind nicht mehr in der Lage, einen gesellschaftlichen Konsens zu schaffen. Sie versuchen, die USA für ihr eigenes Versagen verantwortlich zu machen, wie immer. Aber die Menschen haben verstanden, dass ihr Feind zu Hause sitzt.