84 Prozent der Deutschen finden die Organspende gut. Aber nur 39 Prozent haben ihre Entscheidung dokumentiert, etwa in einem Ausweis. Gerade einmal 43 Prozent haben überhaupt eine Patientenverfügung, die regeln soll, was in Notfällen wie einem schweren Hirnschaden mit ihnen passieren soll. Was das zeigt? Dass die meisten Menschen in unserer Gesellschaft den Tod und das Sterben noch immer mit allen Mitteln verdrängen. Dass bei der Organspende die Angst und Trägheit der Menschen größer ist als ihr Wille zu helfen.

Heute hat der Bundestag eine Chance vertan, etwas gegen dieses Verdrängen und seine mitunter schlimmen Folgen zu tun. Denn die doppelte Widerspruchslösung zur Organspende, für die Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach geworben hatten, bekam keine Mehrheit. Ihr Vorhaben, jeden Menschen, der nicht zu Lebzeiten widersprochen hat, zum potenziellen Spender zu machen, scheiterte.

Die Debatte darum im Bundestag war fair und respektvoll. Natürlich ging es um das Leid der 9.500 Menschen auf Organwartelisten, denen unsere Gesellschaft Solidarität schulde, und um die Frage, ob eine Widerspruchslösung ein zu starker Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Menschen sei. Die FDP-Gesundheitspolitikerin Christine Aschenberg-Dugnus aber brachte noch ein anderes Thema auf: Die Menschen, sagte sie, hätten Angst vor der Entscheidung.

Ungewollt sprach sie den eigentlichen Kern der Auseinandersetzung an. Niemand beschäftigt sich gern damit, wie er sterben will, was mit ihm in den letzten Tagen und Stunden seines Lebens passieren soll. Das mag lange Zeit kein großes Problem für die Gesellschaft gewesen sein. Heute aber, in Zeiten, in denen Medizinerinnen und Ärzte Menschen jahrzehntelang mit Maschinen am Leben erhalten können und sogar Herzen von einer in eine andere Brust verpflanzen, wird es zu einem Problem.

Die Verdrängung der eigenen Sterblichkeit ist längst kein individuelles Thema mehr, sondern kann Familie, Freunde, die ganze Gesellschaft betreffen. Wer es willentlich und wissentlich unterlässt, sich zu den technischen Möglichkeiten der Medizin zu positionieren, trifft eine moralische Entscheidung.

Schwere Gewissensfragen – für die anderen

Wer nie eine Patientenverfügung verfasst hat und nie mit seinem Ehemann oder seinen Kindern und Freunden über den eigenen Tod gesprochen hat, stellt seine Angehörigen vor schwere Gewissensfragen. Dann zum Beispiel, wenn er oder sie plötzlich nach einem schweren Schlaganfall auf der Intensivstation landet und nicht mehr sprechen oder schreiben kann. Die Menschen um ihn herum müssen nun mühsam den Willen des Schwerkranken herausfinden: Hätte er bei einer kleinen Chance auf Besserung künstlich beatmet und künstlich ernährt werden wollen? Hätte sie nun lieber frühzeitig auf die Hilfe der intensivmedizinischen Maschinen verzichtet?

Ähnliche Fragen stellen sich auch bei der Organspende: Hätte meine Mutter oder mein Ehemann Leber und Herz spenden wollen? In vielen Fällen lehnen Verwandte und Angehörige eine Organspende ab, wenn sie Zweifel haben. Für die Tausenden von Menschen in Deutschland, die ein Spenderorgan brauchen, bedeutet das, dass sie weiter warten müssen – oder gar versterben.

Die Verdrängung des eigenen Sterbens speist im Zweifel ein tödliches System der Ignoranz.

Welchen Preis hat das Recht auf Verdrängen?

Die von Spahn und Lauterbach angestrebte Widerspruchsregelung hatte das Potenzial, dieses System zu durchbrechen. Denn sie hätte die Menschen dazu verpflichtet, sich mit dem eigenen Tod zu beschäftigen. Eine Zwangsmaßnahme, aber eben keine Organabgabepflicht, wie manche Kritikerinnen und Kritiker behaupteten. Wer weiß, vielleicht hätte sie sogar dazu geführt, dass der ein oder andere zusätzlich eine Patientenverfügung verfasst hätte.

Rechtfertigt am Ende der Zweck die Mittel? Nein, es gibt auch berechtigte Kritik an der Widerspruchslösung. Ist sie überhaupt mit dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen vereinbar? Wieso müsse man jeder Datenweitergabe explizit zustimmen, nicht aber der Entnahme der Organe? Und was sei mit den Menschen, die nicht schreiben oder lesen können, die nicht Deutsch sprächen, obdachlos seien oder aus verschiedenen Gründen Angst hätten, auf dem Amt zu erscheinen, um ihre Entscheidung zu hinterlegen, fragte vollkommen zu Recht die Linkenpolitikerin Kathrin Vogler. Außerdem war stets unklar, wie sehr die Widerspruchslösung allein die Spenderzahlen erhöhen würde – gerade im Vergleich zu anderen Maßnahmen wie der Verbesserung der Abläufe in Kliniken, die nahezu alle Abgeordneten befürworteten.

Und dennoch ist es wichtig, immer wieder zu fragen: Wenn jedes Jahr 900 Menschen sterben, weil sie kein Spenderorgan bekommen, ist das nicht ein zu hoher Preis für das Recht darauf, sich nicht entscheiden zu müssen? Und was ist so falsch daran, Schweigen als Zustimmung zu deuten? Umfragen wie das Politbarometer des ZDF zeigten zuletzt, dass mehr als 60 Prozent der Deutschen für die Widerspruchslösung waren. Deutlich mehr Menschen also, als in Deutschland einen Organspendeausweis haben.

Der Bundestag hätte heute sehr deutlich machen können: Selbst im Sterben sind wir alle Teil dieser Gesellschaft. Er hat es nicht getan.