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Hier geht die Erde langsam unter

«Irgendwie greift man immer auf seine Wurzeln zurück»: Franz Treichler (l.) und Bernard Trontin mit dem zurückgekehrten Ur-Mitglied Cesare Pizzi (r.). Foto: Reto Oeschger

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Der zum Club umfunktionierte Weinkeller war schlecht belüftet und hoffnungslos überfüllt. Draussen wartete etwa eine Hundertschaft auf Einlass, um Zeuge eines Spektakels zu werden, von dem schon das ganze Städtchen sprach. Auf der Bühne: drei ältere Männer, schwitzend hinter einem Instrumentenpark aus diversen elektronischen Gerätschaften, Schlagzeug und Gitarren werkelnd. Sie improvisierten offensichtlich und folgten doch irgendwie einem Plan. «Ist das tatsächlich Jazz? Wenn ja, dann liebe ich es!», rief ein Zuschauer durchs Gewölbe.

Das war 2015, am Cully Jazz Festival, im Weinkeller The Hundred Blue Bottle Club, und auf der Bühne jammte schon seit fünf Abenden – unter falschem Namen – eine Band, die man hier nicht erwartet hätte. The Young Gods hiess das Trio, das vor 35 Jahren die Musikwelt aus den Angeln gehoben hatte.

Kurz vor dem Ende

Mit Sampler, Schlagzeug und Stimme entwarfen die drei Schweizer eine komplett neue Rockästhetik, die in ihrer modernistischen Eleganz und Dringlichkeit einzigartig geblieben ist. Der englische «Melody Maker» erkannte darin bald die «Zukunft der Rockmusik», in Amerika gab man dieser digitalisierten Hochenergie-Musik Jahre später den Namen Industrial.

Prägende Künstler und Bands wie David Bowie, The Edge, Nine Inch Nails, Marilyn Manson, Kurt Cobain, Faith No More oder auch Rammstein gaben zu, massgeblich von den Genfern inspiriert worden zu sein. Kurz: The Young Gods haben wie kaum eine andere Schweizer Band die Rockmusik beeinflusst. Und nun also Jazz? Improvisation? Weinkeller?

Das Engagement in Cully im Jahr 2015 sei der entscheidende Antrieb gewesen, um die Band wiederzubeleben, sagt Franz Treichler. Die Sessions bildeten die Basis für die neuen Songs, die auf dem Album «Data Mirage Tangram» versammelt sind.

Eine musikalische Auslegeordnung

Ein Jahr zuvor standen The Young Gods vor der Auflösung. Al Comet, der langjährige Tastenmann, war ausgestiegen, Treichler, 2014 noch mit dem Grand Prix Musik des Bundesamts für Kultur geadelt, stellte sich Sinnfragen über das Alter und die Strapazen eines Rockmusikerdaseins und suchte nach neuen musikalischen Ausdrucksformen. Den 30. Geburtstag der Band feierte man mit Konzerten, in denen man – zusammen mit Cesare Pizzi, dem Ur-Mitglied am Sampler – auf die Anfangsphase der Band zurückblickte.

Es sei in Cully darum gegangen, die Zukunft der Band zu umreissen. «Wir wollten das nicht in Gesprächen tun, sondern indem wir uns musikalisch austauschten», sagt Cesare Pizzi, der nach den Weinkeller-Konzerten entschied, wieder festes Mitglied der Band zu werden. Und Schlagzeuger Bernard Trontin spricht von einer musikalischen Auslegeordnung, von Puzzleteilen, die es in eine Form zu bringen galt: «Wir haben es anfänglich bewusst nicht Young Gods genannt. Wir wollten wirklich von null beginnen.»

Das zahmste Werk

Das neue Album der Young Gods – das erste seit acht Jahren – ist denn auch in vielerlei Hinsicht ein Paradoxon. Es klingt so komplett anders als das, was die Band auf ihren bisherigen elf Studioalben bewerkstelligt hat. Und doch ist vom ersten Ton an erkennbar, dass hier die Young Gods zu hören sind. Es verweist musikalisch auf die psychedelische Rockmusik der Sechzigerjahre und weist gleichzeitig in die Zukunft.

Es scheint das zahmste und verträumteste Werk der Genfer zu sein, und doch ist es rebellischer und unzugänglicher als vieles davor. Die Durchschnittslänge der Songs beträgt etwa acht Minuten, es wird ihnen viel Zeit zur Entfaltung zugestanden, Zeit, um ins Atmosphärische abzuschweifen, Spannung aufzubauen, die sich in einer Eruption löst und dann wieder in sich zusammenfällt.

Doch die Ausbrüche sind selten, als wolle man mit den Energiereserven sparsam umgehen. Oder auf die Filmsprache umgemünzt: Hier braucht nicht alle fünf Minuten ein Auto zu explodieren. Es ist viel wirkungsvoller, wenn die ganze Erde langsam untergeht. Zwar wurden für einige Songs auch kürzere Radio-Edits bereitgestellt, doch das sei selbstredend die Idee des Managements gewesen, wie alle drei nachdrücklich betonen.

Eher ein Trip als ein Kick

«Irgendwie greift man immer auf seine Wurzeln zurück», antwortet Franz Treichler auf die Frage, ob er das neue Album als zeitgeistig empfinde. Dann fallen Stichworte wie Pink Floyd, Blues oder Kraftwerk; musikalische Referenzen, die jedem Young-Gods-Album zugrunde gelegen hätten: «Es ist kein futuristisches Album, aber es klingt doch zeitgemäss. Und es ist ein Band-Album. Es folgt für einmal keinem vorgegebenen Konzept, sondern beruht auf dem, was im Kollektiv entstanden ist.»

Exemplarisch dafür ist der fulminante Elfminüter «All My Skin Standing», der auf einer lautmalerischen Schlagzeugform aufbaut, das sich mit Loops und einer immer bedrohlicher werdenden Klangkulisse herumschlägt, bis es zur grossen Entladung kommt, die in einem zweiminütigen, reichlich wilden Gitarrensolo gipfelt.

Es sind auf diesem Album sämtliche Alleinstellungsmerkmale zu finden, welche die Young Gods zu einer aussergewöhnlichen Band gemacht haben: die hypnotischen Tribal-Beats, die Songs, die sich in architektonischer Raffinesse auftürmen, die Poesie zwischen den Klangbrocken und die sorgfältig und präzis gesetzten elektronischen Frequenzen. Doch «Data Mirage Tangram» ist eher ein Trip als ein Kick. Eher berauschend als aufrüttelnd. Trotzdem gibt es in diesem musikalischen Taumel jede Menge zu erleben.

Hochspannung ohne Hektik

Ähnlich vernebelt wie die Musik ist auch die Poesie Franz Treichlers. Hat er in früheren Werken wie «Envoyé» punkig den Stinkefinger ausgefahren, spricht er heute in multiplen Metaphern. «Tear Up the Red Sky» schafft Figuren, halb Engel, halb Terroristen, und «Entre en matière» spielt mit Begriffen aus der Molekularbiologie.

«Eigentlich geht es bei den Young Gods immer um ähnliche Botschaften», erklärt Treichler: «Geh keine Kompromisse ein, tu, was du willst – und kämpfe an gegen den Konservatismus! Doch wir sind alte Männer. Wir haben eine Sprache gefunden, in der sich der Furor von früher anders Bahn bricht.»

Was auf die Texte zutrifft, gilt auch für die Musik. Die drei älteren Herren haben ein Werk geschaffen, das musikalische Hochspannung bietet, ohne dabei Hektik aufkommen zu lassen: kompromisslos und fern des Verdachts, auf die alten Tage hin konservativ zu werden.

The Young Gods: Data Mirage Tangram (Two Gentlemen). Live: 19. 4., Salzhaus Winterthur; 20. 4., Kaserne Basel;26. 4., Dachstock Bern.