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Sjewjerodonezk ist gefallen und der Ukraine geht die Sowjet-Munition aus – nun hofft Kiew auf moderne Nato-Panzer

Die ukrainische Armee muss sich aus der Stadt Sjewjerodonezk zurückziehen. Probleme gibt es auch bei Munitionsversorgung: Die Geschosse für die Artillerie aus Sowjetzeiten neigen sich zu Ende.

Remo Hess, Brüssel
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Mit der Munition des Feindes: Ukrainische Soldaten feuern eine 152mm ‹Msta B› Haubitze ab. (Archiv)

Mit der Munition des Feindes: Ukrainische Soldaten feuern eine 152mm ‹Msta B› Haubitze ab. (Archiv)

Keystone

In der Ukraine liegen Freud und Leid nahe beieinander: Während die Medien noch über den erhaltenen Status als EU-Beitrittskandidat berichteten, folgte schon die schlechte Nachricht von der Front. Nach wochenlangem Abwehrkampf mussten die ukrainischen Truppen am Freitag die strategisch wichtige Industriestadt Sjewjerodonezk im Osten des Landes aufgeben.

«Es ist eine Situation, in der es keinen Sinn hat, in zerschlagenen Stellungen auszuharren», sagte Serhij Hajdaj, der Gouverneur des Gebiets Luhansk. Um der Einkesselung zu entgehen, habe die ukrainische Militärführung ihre Truppen aus der mittlerweile zu 90 Prozent zerstörten Stadt zurückbeordert. «Die Russen rücken vor, ohne Munition oder Truppen zu sparen, und beides geht ihnen nicht aus», so Hajdaj.

Die Kämpfe konzentrieren sich nun auf Lyssytschansk, der auf der anderen Seite des Flusses gelegenen Zwillingsstadt von Sjewjerodonezk. Es sind die letzten beiden Grossstädte, die im Bezirk Luhansk bislang noch unter ukrainischer Kontrolle standen. Mit ihrer Einnahme wäre der Weg frei auf das rund 80 Kilometer weiter südlich gelegene Slowjansk und die Verwaltungshauptstadt Kramatorsk.

Die Russen haben Sjewjerodonezk in den letzten Tagen weitgehend erobert, sodass sich die ukrainischen Kräfte zurückziehen mussten.

Die Russen haben Sjewjerodonezk in den letzten Tagen weitgehend erobert, sodass sich die ukrainischen Kräfte zurückziehen mussten.

Keystone

Ukraine muss sparen: Es gibt keinen Nachschub an Sowjet-Munition

Ein Hauptproblem der Ukrainer bei der Verteidigung im Osten ist weiterhin die Unterlegenheit bei schwerer Artillerie. Dies, zumal jetzt noch die Munition auszugehen droht. Für ihre eigenen Sowjetwaffen und auch jene, die sie von ehemaligen Länder des Warschauer-Pakts erhalten hat, braucht die ukrainische Armee Granaten mit dem Kaliber 122-Millimeter und 152-Millimeter. Ausserhalb Russland ist dieser Standard jedoch kaum zu organisieren.

Zwar gibt es auch in der EU Fabriken, welche die benötigte Munition herstellen können. Zum Beispiel in der Slowakei oder Tschechien. Aber bei dem täglichen Verbrauch von rund 6000 Geschossen reichen die Produktionskapazität niemals aus, um die ukrainischen Bestände stabil zu halten. Zum Vergleich: Russlands Armee kann es sich gemäss ukrainischen Angaben erlauben, pro Tag das Zehnfache, also rund 60’000 Artilleriegeschosse abzufeuern.

Wegen ihrer hohen Mobilität sehr effizient: Eine Caesar-Haubitze aus Frankreich.

Wegen ihrer hohen Mobilität sehr effizient: Eine Caesar-Haubitze aus Frankreich.

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Französische Caesar leisten zuverlässigen Dienst im Feld

Vor diesem Hintergrund wird es immer dringender, dass die Nato die Ukraine mit schwerer Artillerie westlicher Bauart und der dazugehörigen Munition des Kalibers 105-Millimeter und 155-Millimeter versorgt. Wie die Komplettumstellung der Ukraine auf Nato-Munition gestemmt werden soll, wird auch Thema beim Nato-Gipfel von kommender Woche in Madrid sein. Fest steht: Es ist eine Gewaltsaufgabe.

Bereits haben die USA 126 Haubitzen mit dem Kaliber 155 Millimeter und hunderttausende dazugehörige Geschosse geliefert. Die 18 französischen Caesar Selbstfahrhaubitzen leisten laut den ukrainischen Behörden auf dem Schlachtfeld einen überaus effizienten Dienst. Und auch die jetzt aus Deutschland und den Niederlanden gelieferten 12 Panzerhaubitzen 2000 sind ein wirkungsmächtiges Kampfmittel.

Um die ukrainische Artillerie aus Sowjetzeiten zu ersetzen, müsste der Westen seine Lieferungen jedoch um ein Mehrfaches steigern. Das ist aber nur beschränkt möglich, weil gerade auch in Europa die Bestände begrenzt sind. Frankreich zum Beispiel hat bereits rund einen Drittel seines Gesamtbestands an Caesar-Haubitzen an Kiew überstellt. Mehr geht nicht.

Präzise und hohe Reichweite: Himars-Mehrfachraketenwerfer made in USA.

Präzise und hohe Reichweite: Himars-Mehrfachraketenwerfer made in USA.

Keystone

Langsam, aber sicher: Jetzt kommen die überlegenen Waffen aus dem Westen

Immerhin: Mittlerweile sind die ersten Himars-Mehrfachraketenwerfer in der Ukraine angekommen, wie der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow am Donnerstag verkündete.

Insgesamt acht dieser modernen Systeme mit präzisionsgelenkten Raketen haben die USA Kiew zugesagt. Das Vereinigte Königreich will ebenfalls Himars-Einheiten liefern und Deutschland hat die Lieferung seines eigenen Mars II Mehrfachraketenwerfer angekündigt. Der grosse Vorteil dieser Systeme ist, dass sie nicht nur sehr präzise feuern können. Sondern im Fall der Himars eine Reichweite von 80 Kilometer aufweisen und damit ausserhalb des russischen Artillerie-Gegenfeuer operieren können. Mittelfristig könnte die Überlegenheit der westlichen Waffensysteme das Kräfteverhältnis auf dem Terrain zu Gunsten der verändern.