Geschichte einer Sucht: Der Spieler

Nr. 25 –

Über 100 000 Franken verspielt. Die eigene Grossmutter bestohlen. Drei Therapien abgebrochen. Wie weiter?

Illustration: Hände bedienen einen virtuellen Spielautomaten auf einem Smartphone-Bildschirm

Das Zimmer, in dem die Grossmutter ihr Geld aufbewahrte, lag ebenerdig, jenes von Lukas einen Stock höher. Dort flimmerte der Fernseher, Tag und Nacht, auf dem Smartphone blinkte das Onlinecasino, «Slotmaschine», leuchtende Symbole in einer schönen Reihe, wenn er gewann, regnete es Goldmünzen. Wochen schmolzen, lösten sich auf, 2018, Jahreszahlen verschwammen, 2019, er ging runter, mehrmals im Lauf der Wochen und Jahre, vorbei am Küchentisch, rechts der Ofen, links das Zimmer der Grossmutter, manchmal nahm er 50, meistens 100, einmal auch 700. Die Scham, die langsam hochkroch – dann schnell mit dem Auto zur Tankstelle, Paysafe-Karte, Minuten später: Neues Spiel, neues Glück.

Jetzt steht er in der Tür. «Hier habe ich gehaust», sagt Lukas, eine Lampe wirft schummriges Licht, der Fernseher steht noch immer in der Ecke, «das ist meine Baracke.» Auf der Kommode liegt ein Fussballheft, «Eurosoccer», Marco Streller auf dem Cover, April 2007, Tabakreste auf dem Tisch, Parisienne Gelb. Das eingerahmte Foto zeigt den Jungen, der er war, dritte Klasse, breites Lachen, Lukas M., Bauernsohn. Daneben blicken sechzehn Buben in die Kamera, rot-weisse Fussballtrikots, die Ärmel etwas zu lang, Lukas fährt mit dem Finger über das beschichtete Papier, «mein Lieblingsbild».

Vier Kilometer sind es bis ins nächste Dorf. Der Vater führt den Hof, Hannah lebt hier, die ältere Schwester, zusammen mit ihrem Mann. Die Grossmutter lebt hier, zusammen mit der Tante. Und Lukas, wenn er nicht mehr weiterweiss. Achtzehn Hektaren Land, zweieinhalb Hektaren Wald, vierzig Rinder.

Lukas setzt sich aufs Bett, das er näher ans Fenster gestellt hat. «Sie sind nicht mehr wütend auf mich. Irgendwann meinte Grossmutter: ‹Für mich ist das gegessen.› Ich war», sagt Lukas, «verzweifelt. Wenn du es nicht durchbrichst, dann geht es immer weiter.»


Am 5. 11. 21 wurde uns bekannt, dass es Anfang Oktober 2021 mindestens 3mal zu Diebstählen in T. gekommen war. Der Tathergang, aus unverschlossenen Autos Geld und Wertsachen zu entwenden, ist von Lukas M. hinreichend bekannt. Kurz nach Eintritt in unsere Stiftung vor einem Jahr, am 5. 11. 2020, war er mehrere Tage auf «Kurve» und beging solche Taten. Die Polizei stellte Beweisgut bei ihm und in der Stiftung sicher. Als wir Lukas nach Aussage von seinem Mittäter konfrontierten, war er nicht in der Lage, seine Beteiligung einzugestehen. Worauf wir ihn fristlos noch am gleichen Tag, Freitag, den 5. 11. 2021, aus der Sozialtherapie ausschlossen.

«Ich brauchte Geld zum Spielen», sagt Lukas. «Das ist alles.»

Illustration: Eine Figur kauert in einem Roulette-Rad

Wie warst du als Kind?

«Anhänglich. Jeden Morgen nahm mich Vater auf den Schoss, dort trank ich meinen Schoppen. Und schüchtern war ich. Später spielte ich gern im Freien, Tiere interessierten mich weniger, dafür Traktoren. Sah ich einen, wusste ich sofort, ob John Deere oder Fendt. Vater hat sich kürzlich einen sehr schönen gekauft, ein neues Mähwerk dazu. Massey Ferguson, 5000er-Serie, 112 PS, 40 Tonnen Nutzlast. Einmal, ich war vielleicht fünf, liess ich mit einem Schraubenzieher den Traktor an, 35er Massey Ferguson, bei den alten ging das noch. Ich erschrak, als er tatsächlich lief, weinte, bis Vater kam und den Motor abstellte.»

Lukas’ Kindheit roch nach frisch gemähtem Gras. Mit seinen Schwestern, Hannah und Eva, rannte er durch die Maisfelder des Nachbarn, sie spielten Verstecken, gingen hinunter zum Fluss, Hannah ritt und badete mit den Pferden, Jahr für Jahr veränderte sich das Flussbett, Lukas suchte nach Fischen und sprang vom Felsen. Im Kindergarten war einer, zwei Jahre älter, der schlug Lukas das Auge blau.

November 2021. Auf der Kommode neben Lukas’ Bett steht ein grüner Traktor mit einem Heuwagen, Handyrechnungen liegen auf einem Stapel, draussen im Gang steht ein Fitnessgerät, King Maxx, auf einem Tischchen eine Hantelstange, nie ausgepackt.

«Irgendetwas», sagt er jetzt, «war seltsam. Die Eltern stritten selten vor uns Kindern, trotzdem wussten wir, dass sie sich stritten.» Irgendwann hiess es: «Wir ziehen um.» Die Grosseltern blieben auf dem Hof, Vater lebte nun allein, kam Tag für Tag in den Stall, «wir wohnten bei der Mutter auf der anderen Seite der Brücke, ein Fluss zwischen Vater und uns. Am Anfang sollte er zum Abendessen kommen, aber die Eltern stritten, später durften wir jedes zweite Wochenende zu ihm.»

Die Lehrerin notierte: «Lukas verträgt sich sehr gut mit anderen Gruppenmitgliedern. Er passt sich manchmal zu sehr an und wagt noch nicht immer, sich zu äussern», 30. Januar 2002, Vater unterschrieb mit Schwarz, Mutter mit Blau.

Lukas’ Zimmer, die Baracke, führt in einen dunklen Gang, das Dach reicht über die Fenster hinab, ein roter Lego-Ferrari steht vor einem erloschenen Fernseher, Playstation-Broschüre: Never stop playing. Er sagt: «Die Kindheit auf dem Hof, bis ich sieben war, das ist meine schönste Erinnerung. Manchmal versuche ich, sie in die Gegenwart zu holen.»

Die Holztreppe knarrt, vor dem Haus steht Lukas’ Auto, ein Audi A3, Sportversion, keine Nummernschilder, der Abdruck von Katzenpfoten auf der Motorhaube. Jetzt öffnet Lukas die Tür, schwarze Sitze, zärtlich führt er die Hand über das Leder. Hannah, die Ältere, lebt gegenüber im Stöckli.

Die Küche ist hell, die Wände weiss gestrichen, über dem Tisch hängt eine Lampe. Warmes Licht, vor den Fenstern Kühe, aus deren Mäulern es dampft. «Du warst», sagt Hannah, «ein musisches Kind.» Lukas war neun, als ihm die Gotte ein Schwyzerörgeli schenkte. «Du hattest», sagt Hannah, «so viel Energie.» Auf den Wanderungen lief Lukas vorne beim Vater.

Dritte Klasse, 2002, «Lukas interessiert sich für die Themen im Natur-Mensch-Mitwelt-Unterricht. Er weiss viel, nimmt Neues auf, verknüpft es», notierte die Lehrerin im Lernbericht. «Lukas bewegt sich sehr flink und beweist einen guten Teamgeist», schrieb der Turnlehrer. Lukas, neun Jahre, Stürmer beim FCK. Vater arbeitete jetzt auf einem Betrieb in der Nähe. «Nach der Schule wollte ich dorthin zu ihm aufs Feld», erzählt Lukas, «mich zu ihm setzen auf den Traktor. Aber ich durfte nur, wenn Besuchstag war.»

«Als Kind weisst du nicht, woran du bist. Ich begann mich zu verschliessen», sagt Lukas. Vierte Klasse, Lesen und Schreiben noch nicht erfüllt, Musik, Sport übertroffen, wieder bestätigen die Eltern mit der Unterschrift, dass sie vom Lernbericht Kenntnis genommen haben, eine ist blau, eine schwarz, 5. Februar 2003.

«Kurz darauf zogen wir wieder um, diesmal an den Rand einer Stadt. In der Schule lernte ich, dass ‹Bauer› ein Schimpfwort ist. Wenn ich fürchtete, sie könnten mich hänseln, verschwieg ich, woher ich kam, wer ich bin. Ein Jahr lang übte ich auf dem Schwyzerörgeli, nahm Unterricht – ich verstehe nicht, was an diesem Instrument lustig sein soll», sagt Lukas. Fünfte Klasse: «Ich wusste nicht, was mich traurig machte.»

Mit zwölf holte er sich am Selecta-Automaten Zigaretten, Marlboro Light, mit dreizehn zog er zum ersten Mal an einem Joint, mit vierzehn begann er, Glücksspiele zu spielen, seine Freunde stammten aus dem Kosovo, aus Albanien, Bosnien, sie schlugen zu, wenn einer krumm kam, «wir waren eine Art Rudel, ich wollte dazugehören». Als einer Lukas vor der Klasse blossstellte, rief Lukas ihn zu Hause an: «Was soll der Scheiss?» Der andere sagte: «Mutig von dir, dass du mich anrufst.»

Warst du fair, wenn du der Stärkere warst?

«Nein, ich habe ihr Denken übernommen. Der Stärkere kann den Schwächeren einschüchtern. Manche können ihre verletzliche Seite gut verstecken, ich nicht. Wir waren eine Gruppe, in der keiner dem anderen traute, Mitschüler sagten mir, es sei schade, dass ich mich derart krass veränderte.» Lukas spielte Fussball, schaffte es in die regionale Auswahl, kiffte; nach den Trainings, wenn keiner ihn sah, rauchte er eine Zigarette. Lukas M., U-16, Stossstürmer beim FCA.

2008, Beginn der Lehre als Landwirt. Zurück auf dem Hof, der Vater war der Lehrmeister. Das zweite Lehrjahr im Welschen: Lukas kaufte sich ein Motorrad, Yamaha DT 50 R, brauste hin, brauste her, büffelte Französisch bei der Grossmutter, sass bei der Gastfamilie am Tisch, Mutter, Vater, manchmal kam der Schmerz hoch, auf seiner Yamaha donnerte er zu irgendeinem Typen, der ausserhalb von Bern wohnte, vierzig Kilometer, wollte was erleben, kiffen, wegdösen.

«Eine innere Stimme sagte mir: Nein, lass es. Aber ich wollte mich betäuben, ich wollte Genugtuung, fühlte mich besser vielleicht oder weniger schlecht.» Lukas spricht bedächtig, «wahrscheinlich vom Kiffen, oder von den Medikamenten, ich werde sie bald absetzen, dann sehe ich es».

Die Merkfähigkeit litt, Kiffen, Berufsschule, Yamaha, Kiffen, Berufsschule, einmal stürzte er in einem Kreisel im Freiburgischen, blieb unverletzt.

«Irgendwann, ich war achtzehn, stellte mir Eva, meine kleine Schwester, ein Mädchen vor, Mayla. Sie war zwei Jahre jünger, tanzte Hip-Hop, wir schrieben uns über Facebook, telefonierten jeden Tag, dann der erste Kuss.» Nach drei Monaten sagte sie: «Ich weiss nicht, wie ich es meinen Eltern sagen soll.» Die Mutter aus dem Libanon, der Vater fuhr Taxi und ging freitags in die Moschee. «Mayla weinte oft, sagte: ‹Ich kann nichts dafür.› Und ich dachte: Warum bloss stecke ich schon wieder in einem Konflikt?»

Lukas, wer oder was hat dich am meisten geprägt?

Er schweigt, schaut ins Leere, hinter ihm das Fenster, Kühe, Hügel, Wald. Endlich sagt er: «Warum lieben, wenn die Liebe ohnehin kaputtgeht? Irgendwann habe ich mich nicht mehr getraut, Freude zu empfinden. Geprägt», sagt Lukas, «hat mich der Schmerz.»

«Wir trafen uns heimlich, am Waldrand beim grossen Feld, sassen auf einer Bank. Maylas Eltern schwebten wie ein Schatten über uns. Nach einem halben Jahr rief mich ihr Vater an, sagte: ‹Lass Mayla in Ruhe, sonst lernst du mich kennen.› Ihre Eltern setzten sich mit meinen zusammen, danach durften wir uns immerhin treffen, die erste Nacht bei ihr, morgens hörte ich die Stimme ihres Vaters, versteckte mich im Vorzimmer.» Lukas lebte nun bei seiner Mutter, Mayla in der Nähe, «eigentlich eine gute Zeit, Geld verdient, ein Auto, eine Freundin, aber innerlich –»


Lukas M. war vom 1. September 2012 bis 31. Oktober 2013 befristet als temporärer Betriebsmitarbeiter in unserem Kartoffelabpackbetrieb in F. angestellt. Während der Kartoffeleinlagerung 2014 und 2015 leistete Lukas M. jeweils September + Oktober einen Einsatz. Sein Arbeitspensum betrug 100%. Zu seinen wesentlichen Aufgaben gehörten: Staplerfahren, allgemeine Arbeiten im Betrieb. Lukas M. war pünktlich und arbeitete ausdauernd. Wir haben Lukas M. als einen aufrichtigen und anständigen Mitarbeiter kennengelernt. Durch seine korrekte und loyale Art wurde er von Kolleg(Inn)en und Vorgesetzten gleichermassen geschätzt.

Irgendwann, vielleicht im Sommer 2013, trat Lukas, begleitet von einem Kumpel aus der Oberstufe, das erste Mal in ein Casino. Kursaal Bern, die Gänge mit weichem Teppich ausgelegt, «ich hatte 200 Stutz im Sack, die Automaten leuchteten, gelbe Zitronen, violette Trauben, rote Kirschen, alles blinkte, alles flimmerte, irgendwelche Knöpfe drücken, habe ich schon immer gern gemacht». Lukas verliess das Casino 4800 Franken reicher. Am Montag wedelte er in der Kartoffelzentrale mit einem Bündel Geldnoten.

«Ich merkte», sagt Lukas am Tisch seiner Schwester Hannah, «wie es mich reinzog, psychisch, meine Freunde sagten: ‹Nimm jetzt das Geld, lass uns nach Hause gehen›, aber das war die Welt, in der ich leben wollte. Dort war ich jemand, vielleicht zog ich am Anfang Aufmerksamkeit auf mich, weil ich nacheinander viel gewann.»

Glück?

«Ja, logisch. Kann sein, dass sie dich am Anfang gewinnen lassen. Dann haben sie dich im Boot.»

Wusste deine Freundin davon?

«Ob ich es ihr erzählte oder verheimlichte, weiss ich nicht mehr. Irgendwann war es ohnehin zu spät, niemand konnte mir etwas sagen, ich war im Sog, mir selber abhandengekommen.»

Nach einem Jahr rief die Mutter im Casino an: «Mein Sohn hat ein Spielproblem.» Lukas wird schweizweit gesperrt, er flieht ins Internet, www.interwetten.com.

28. Dezember 2015, 00:06 Uhr, Lukas zahlt 100 Franken mit einer Paysafe-Karte ein, neues Guthaben: 104.91 Franken. Er spielt Roulette, setzt 11 Franken, verliert, setzt 12 Franken, gewinnt, neues Guthaben: 154.29 Franken, setzt 12, verliert, setzt 7, verliert, setzt 20, verliert, setzt weiter, 00:14 Uhr, neues Guthaben: 67.29 Franken. 00:15 Uhr, er setzt 12 und gewinnt 180 Franken, neues Guthaben: 247.29 Franken. 13 auf Rot, 30 auf Schwarz, rot, schwarz, rot, die Kugel schwirrt im Kessel, die Scheibe dreht sich, 00:44 Uhr, neues Guthaben: 291.29 Franken, 00:59 Uhr, neues Guthaben: 0.18 Franken, Einzahlung Paysafe-Karte, neues Guthaben: 52.74 Franken, eine Stunde später alles weg, 02:45 Uhr, noch mal einzahlen – 02:59 Uhr, neues Guthaben: 0.09 Franken.

28. Dezember 2015, 03:04 Uhr: «Bitte löschen Sie mein Profil.»

28. Dezember 2015, 03:06 Uhr: «Sehr geehrte(r) Lukas M., wir bestätigen Ihnen hiermit, dass wir Ihr Konto auf Ihre Anforderung hin geschlossen haben. Damit können Sie unser Spielangebot derzeit nicht nutzen. Sie erhalten ausserdem keinerlei Marketinginformationen von Interwetten.

Mit freundlichen Grüssen, Ihr Interwetten-Team»

«100 000 hab ich mindestens verzockt.»

Der Raum ist hell, die Wände weiss, draussen grasen Kühe.

«Vielleicht 200 000, aber mehr wohl nicht.»


Ab 15. Juli 2016 konnte Herr M. seine Funktion wegen gesundheitlicher Einschränkungen (leider) nicht mehr wahrnehmen. Er verlässt uns auf eigenen Wunsch. Wir danken Lukas M. für die geleistete Arbeit ganz herzlich und wünschen ihm für seine berufliche und private Zukunft alles Gute.

Zurück auf dem Hof der Kindheit, achtzehn Hektaren Land, zweieinhalb Hektaren Wald, vierzig Rinder. Lukas stand auf, sah aufs Handy, rauchte eine Zigarette, trank Kaffee, zog sich an und ging aus dem Haus, Morgen für Morgen, nun lieferte er Heizungsrohre für Baustellen aus, manchmal einen neuen Boiler. Firmenwagen, ein Kran auf der Ladefläche, Lukas brachte Alteisen auf den Entsorgungshof. Am Abend flimmerte der Fernseher, Playstation, Fifa Ultimate, Fussball nur noch virtuell.

Arbeitslos –

Sonntag, 21. Oktober 2018, 19 Uhr, Betreff: Befreiung

Hallo Jeremias ich habe dir bereits auf youtube geschrieben ich brauche unbedingt Hilfe. Ich möchte das Gott jetzt einschreitet und mir hilft aus dieser Misere, ich kann weder aus vollem herzen bereuen noch kann ich von mir aus umkehren. Ich weiss nicht zu wem ich gehen soll, ich habe alles verloren mein herz ist aus stein, ich bitte dich hilf mir ich heisse Lukas und komme aus der Schweiz.

Samstag, 4. Mai 2019, 19.37 Uhr

Guten Tag Herr H., ich wollte Ihnen mitteilen, dass ich eine neue Stelle gefunden habe als Dachdecker. Ich habe die Stelle am Montag 29. April 2019 angefangen und möchte mich hiermit vom RAV abmelden.

Im Juni 2019 beginnt Lukas wieder zu spielen, Interwetten, Paysafe-Karte, «Slotmaschine», «Book of Dead» – wenn er gewinnt, regnet es Goldmünzen.

Übers Handy hast du gespielt?

«Eine Zeit lang war das Handy meine einzige Beschäftigung.» Die Wetthistorie listete jeden Rappen auf, den Lukas verspielte, Roulette, «Play’n GO», «Book of Dead», 8322 Seiten. Hannah sagt: «Wenn du ein Jahr lang nicht spielst, lassen wir uns ein Tattoo stechen.» Ein vierblättriges Kleeblatt, dunkle Tinte.

«Im Frühjahr 2020 wurde wahr, wovor ich immer Angst hatte: dass ich einen Unfall baue unter Drogeneinfluss.»

Es stürmte, die Strasse war nass, drei Uhr nachts, Lukas sah aufs Handy, auf der Strasse, vom Wind umgeknickt, lag ein Baum, «ich bremste zu spät». Er fährt sich übers Gesicht, sagt irgendwann: «Gott hat mich in dieser Nacht gestoppt.»

Und Hannah, die Schwester, sagt: «Ein Blick genügte. Und du wusstest, spätestens jetzt musst du etwas ändern.»


Am 19. Mai 2020 tritt Lukas in die Psychiatrische Klinik in G. ein. Pathologisches Spielen, schädlicher Gebrauch von Kokain, schädlicher Gebrauch von Cannabinoiden, schädlicher Gebrauch von Alkohol. Hr. M. berichtet, dass er bereits seit seinem 14. Lebensjahr Glücksspiel betreibe. Aktuelle Medikation Venlafaxin Pfizer ER Ret Kaps 150 mg.

Als er sich nach einem Monat wieder einloggt, www.interwetten.com, werden ihm fünfzehn Euro gutgeschrieben – VIP-Bonus. Lukas bleibt bis im Spätsommer in der Klinik, wird rausgeworfen, fährt mit dem Zug zu seiner Schwester, «Play’n GO», «Book of Dead», drei Wochen auf dem Hof. Mit Hannahs Auto fahren sie nach T., der Therapieleiter empfängt sie, zeigt ihnen das Haus, die Metallwerkstatt, die Schreinerei, sagt, dass kein Platz frei sei. Warten, neue Klinik, diesmal in V., 4. September bis 5. November. An einem Donnerstag bezieht Lukas M. sein Zimmer in T., therapeutische Wohngemeinschaft zusammen mit drei Männern und zwei Frauen. Er arbeitet als Schlosser, schweisst Metall, Mittwochmorgen Psychotherapie, Mittwochnachmittag Gruppentherapie.

Verlaufsbericht, Mai 2021: Vor Eintritt war thematisiert, dass die Sozialtherapie in T. nicht primär auf Spielsucht spezialisiert ist. Die Behandlung fokussiert auf ursächliche Problemstellungen. Die erste Zeit in der Sozialtherapie sind wir, auch mit Unterstützung der Schwester, damit beschäftigt, weiteren finanziellen Schaden abzuwenden. Bis zu sieben Handyabonnemente werden gekündigt. Der Unterhalt eines eigenen Smartphones wird ausgeschlossen.

Verlaufsbericht, September 2021: Seine Serie permanenter Unpünktlichkeit am Arbeitsplatz wird von einer Woche auf die andere von ihm aufgegeben. Seit Mitte Juli ist er pünktlich. Lukas beginnt, regelmässig am Training des lokalen Fussballklubs teilzunehmen.

«Fussball war ein Lichtblick», sagt Lukas am Tisch seiner Schwester Hannah, «endlich konnte ich wieder spielen.» Die dritte Mannschaft des FCT trainierte jeweils am Donnerstagabend. «Auf dem Heimweg vom Training sah ich einen Lieferwagen, auf dem Beifahrersitz eine Stange Winston Blau. Ich dachte: Warum schliesst der Trottel sein Auto nicht ab?» Zurück in der Wohngemeinschaft, verschenkte er eine Schachtel, sagte: «Wenn du willst, kannst du mitkommen.» Es war zwei Uhr nachts, zu zweit zogen sie los, die Strasse hoch, den Bach entlang, der andere stand Schmiere, Lukas stieg ins Auto, stahl, was zu stehlen war. Durch einen Wald gingen sie ins nächste Dorf, klauten Bier und Geld, 1200 Franken.


Am 5. 11. 21 wurde uns bekannt, dass es Anfang Oktober 2021 mindestens 3mal zu Diebstählen in T. gekommen war. Der Tathergang, aus unverschlossenen Autos Geld und Wertsachen zu entwenden, ist von Lukas M. hinreichend bekannt. … Die in letzter Zeit von Lukas M. gezeigte Haltungsänderung stimmt uns aber hoffnungsvoll. Auch wenn wir davon ausgehen, dass der eingeschlagene Weg hin zu einer Reintegration in die Gesellschaft allen Beteiligten auf längere Sicht Geduld abverlangen wird.

Mit dem Therapieleiter fuhren sie drei Tage später die Strecke ab, hielten an, wenn sie ein Auto erkannten, versprachen dem Besitzer Wiedergutmachung. Selbstanzeige auf dem Polizeiposten in Z.

Lukas sitzt am Tisch, das Kinn in die Hände gestützt. «Einige der Bestohlenen rief ich an», sagt er. «Ich entschuldigte mich, ein Mann bedankte sich dafür. Und ich wusste: Helfen kann ich mir nur selbst.» Lukas M., 28 Jahre alt, Bauernsohn, bewarb sich im Curato in L., stationäre Gruppentherapie in einem Bauernhaus aus dem 16. Jahrhundert.

«Ich wünschte», sagt er, «irgendjemand wüsste, wie ich mit meiner Spielsucht umgehen soll.»

Es ist kalt in L., Mitte Dezember 2021, Nebelschwaden ziehen über einen Feldweg, es ist längst dunkel, Hannah zu Besuch. «Dort war die Tenne», sagt Lukas und zeigt auf den oberen Stock. Im Frühling will er wieder auf dem Fussballplatz stehen, keine Zigaretten mehr rauchen. Manchmal denkt er an die Wanderung im vergangenen Oktober. Vom Brünigpass liefen sie aufs Wilerhorn, der Himmel blau, Lukas, wie früher, vorne beim Vater. «Am Wegrand», sagt Hannah, «landete ein Schmetterling mit blauen Flügeln.»

Manchmal, wenn Hannah redet, fasst Lukas ihre Hand. «Vater möchte den Hof abgeben», sagt Hannah. «Ich würde gerne einmal Mais anpflanzen», sagt Lukas, «das Feld sehen, von oben, von der Seite, das Rauschen hören, wenn es windet, den Geruch atmen.»

Maisfelder –

Zum Schutz der Betroffenen sind alle Namen geändert. Der Text beruht auf Aussagen von Lukas und Hannah M., Lernberichten, Arbeitszeugnissen, der Wetthistorie von Lukas M., E-Mails und auf Therapieberichten.

Hilfe beim Thema Spielsucht auf www.sos-spielsucht.ch .