Aus Mustern im Gehirn lassen sich Gedanken lesen. Der Psychologe John-Dylan Haynes erklärt, wie das funktioniert
Interview

Aus Mustern im Gehirn lassen sich Gedanken lesen. Der Psychologe John-Dylan Haynes erklärt, wie das funktioniert

Julia Geiser

Jeder Gedanke habe eine Signatur, sagt der Brite. Doch er warnt: «Wenn es um die Prozesse im Gehirn geht, wird viel zu viel Unsinn behauptet.»

Till Hein 9 min
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Nehmen wir an, ich denke nicht an Hirnforschung wie gerade jetzt, sondern an ein zart schmelzendes Raclette. Könnten Sie das in meinem Gehirn erkennen?

John-Dylan Haynes: Grundsätzlich ja. Jeder Gedanke, den wir haben, hat im Gehirn eine unverwechselbare Signatur. Schon vor zwanzig Jahren haben wir mit anderen Kollegen aus der Forschung begonnen, uns mit diesem Phänomen zu befassen.

Und inzwischen können Sie Gedanken lesen?

So weit würde ich nicht gehen. Lesen können wir Gedanken noch nicht im eigentlichen Sinne, wir müssen sie mühsam dechiffrieren. Mein Team an der Charité in Berlin kann zum Beispiel die Aktivierungsmuster im Gehirn unterscheiden, die Begriffe wie «Hund», «Bohrmaschine» oder «Klavier» codieren. Und auch diejenigen von «Berner Sennenhund» und «Bernhardiner». Letzteres ist allerdings schon etwas schwieriger.

Mit welchen Mitteln arbeiten Sie?

In der Regel nutzen wir Neurowissenschafter dafür bildgebende Verfahren wie die Kernspintomografie, welche die Prozesse im Gehirn unter der Schädeldecke sichtbar machen und anzeigen, in welchen Bereichen das Hirn besonders aktiv ist.

Zur Person

John-Dylan Haynes

John-Dylan Haynes

Der britische Psychologe und Neurowissenschafter ist Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience des Klinikums Charité Berlin. Haynes gehört zu den Pionieren in der Erforschung des Gedankenlesens. Er ist Mitautor des Sachbuchs «Fenster ins Gehirn – Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann», Ullstein, Berlin 2021.

Was bedeutet «aktiv» im Gehirn?

In unseren roten Blutkörperchen wird Sauerstoff gebunden und über die Adern bis in Gehirn transportiert, wo er ins Gewebe diffundiert. Denn wenn Nervenzellen arbeiten, verbrauchen sie Sauerstoff aus dem Blut. Das heisst aber auch: Wo im Gehirn gerade viel Aktivität herrscht, diffundiert besonders viel Sauerstoff ins Gewebe.

Und allein schon das lässt gewisse Rückschlüsse auf die Gedanken zu?

Ja. Verblüffend, nicht wahr?

Absolut. Und wie gehen Sie beim Dechiffrieren dieser Aktivitäten im Gehirn vor?

Erst einmal schaue ich mir als Forscher mein eigenes Gehirn an. Ich lege mich also in einen Kernspintomografen und betrachte zum Beispiel ganz viele verschiedene Fotos von Hunden, Katzen und Mäusen, während mein Hirnstoffwechsel aufgezeichnet wird. Nach einer Weile kann der Computer dann drei unterschiedliche grobe Aktivitätsmuster herausrechnen: eines für «Katze», eines für «Hund» und eines für «Maus». Lege ich mich später wieder in den Kernspintomografen, lässt sich auf Basis der gelernten Muster erschliessen, an welches der drei Tiere ich gerade denke.

Wie verlässlich ist diese Art Gedankenlesen?

Bei Tieren, die sich stark unterscheiden, können wir das jeweilige Muster mit einer Sicherheit von rund achtzig Prozent richtig zuordnen. Betrifft die Unterscheidung verschiedene Kategorien, wie etwa bei «Bohrmaschine», «Hund» und «Klavier», liegt die Sicherheit sogar bei fast neunzig Prozent.

Ich kann mit Hunden wenig anfangen. Andere Menschen lieben sie. Hat das einen Einfluss darauf, wie das Gehirn Inhalte codiert?

Die Aktivierungsmuster ähneln einander von Mensch zu Mensch, aber die individuellen Unterschiede können recht gross sein. Bei «Hund» denkt jemand vielleicht an den treuen Familienhund, mit dem er aufgewachsen ist – und eine andere Person an einen Kettenhund, der sie vor Jahren gebissen hat.

Sind die Ähnlichkeiten bei meiner und Ihrer «Hund»-Aktivierung dennoch gross genug, dass Sie sagen können: Das muss bei Till Hein auch Hund bedeuten und nicht «Bohrmaschine»?

Stammen die Dinge aus unterschiedlichen Kategorien, so beträgt die Treffsicherheit der Zuordnung interpersonell noch immer bis zu achtzig Prozent. Geht es dagegen zum Beispiel ausschliesslich um Hunde, wird es schwieriger. Bei «Berner Sennenhund» und «Bernhardiner» liegt die Sicherheit nur mehr bei sechzig bis siebzig Prozent.

Und im Kernspintomografen könnten Sie auch erkennen, ob ich gerade an Raclette oder vielleicht doch eher an Capuns aus dem Bündnerland denke?

Darauf würde ich wetten. «Capuns», «Raclette» und «Fondue» entsprechen mit Sicherheit spezifische Aktivierungsmuster im Gehirn – so wie eben auch «Hund», «Katze» oder «Maus». Und unsere Computersysteme werden immer besser darin, solche Muster zu unterscheiden. Wir arbeiten da mit ähnlichen Algorithmen, wie sie andere Experten für die computergestützte Erkennung von Fingerabdrücken oder Gesichtern nutzen.

Jeder Mensch ist der beste Experte für seine eigenen Erlebnisse und Empfindungen. Aber jemand könnte sich ja auch täuschen oder uns etwas vortäuschen.

Wir sprechen über Gedankenlesen. Aber was ist ein Gedanke überhaupt? Handelt es sich dabei immer um etwas Sprachliches?

Im Alltag werden Gedanken in der Tat meist so definiert. Wir Neurowissenschafter aber fassen den Begriff «Gedanken» viel weiter. Für uns gehören zum Beispiel auch Sinneserlebnisse dazu. Die Eindrücke auf einer Blumenwiese an einem sonnigen Tag – das Licht, die Farben, die Gerüche und die Assoziationen dazu. Das ist ein sehr vielschichtiger Gesamteindruck, der sich schwer in Worte fassen lässt. Auch Emotionen sind daran beteiligt. All das ist in unserem Gehirn codiert.

Es gibt auch Schmerzzentren im Hirn: grosse Ansammlungen von Nervenzellen. Wenn diese nicht aktiv sind, eine Person aber dennoch über Schmerzen klagt, simuliert sie dann?

Das ist ein heikles Thema. Im Allgemeinen vertraue ich auf folgende Grundüberzeugung: Jeder Mensch ist der beste Experte für seine eigenen Erlebnisse und Empfindungen. Aber jemand könnte sich ja auch täuschen oder uns etwas vortäuschen.

Stimmt es, dass eine Schweizer Versicherung Sie vor ein paar Jahren gefragt hat, ob man mit bildgebenden Verfahren Simulanten erkennen kann, die psychische Erkrankungen nur vortäuschen?

Ja. Bei lebenslänglichen IV-Renten wird bekanntlich über sehr viel Geld entschieden. Und die Kolleginnen und Kollegen einer Schweizer Versicherung wollten Betrug vorbeugen. Mithilfe von Hirnstrommessungen wollten sie zum Beispiel echte Depressionen sichtbar machen. Solche Untersuchungen der Prozesse im Gehirn sollten dann als zusätzliches Kriterium zur Feststellung einer Krankheit genutzt werden, neben Fragebogen und Gespräch, bei denen man leicht schummeln kann. Ich sollte die Methode wissenschaftlich begutachten.

Und?

Ich habe ganz klar davon abgeraten. Psychische Krankheiten wie Depressionen und die damit verbundenen Hirnprozesse sind hochkomplex. Es gibt dafür nicht einfach ein spezifisches Aktivierungsmuster im Gehirn, und dann ist der Fall klar. Auch in der Schweiz wurde diese Idee inzwischen zum Glück wieder verworfen.

Hätte man im Kernspintomografen schon vor dem russischen Angriff erkennen können, dass Wladimir Putin die Absicht hat, einen Eroberungskrieg gegen die Ukraine zu führen?

So weit sind wir noch lange nicht. Aber der Plan dafür wird schon in seinem Gehirn gewesen sein.

Der IT-Konzern Facebook hat im Jahr 2017 aber angekündigt: «Wir werden bald Gedanken lesen!»

Das hat viele Menschen sehr beunruhigt – und mich vor allem geärgert. Denn da wurden völlig überzogene Erwartungen geschürt. Diese Pressemitteilung von Facebook war es letztlich auch, die mich dazu gebracht hat, ein populärwissenschaftliches Buch über das Gedankenlesen zu schreiben. Wenn es um die Prozesse im Gehirn geht, wird einfach viel zu viel Unsinn behauptet. Facebook hat vor einigen Jahren auch angekündigt, man werde mithilfe einer neuen Computersoftware bald allein kraft der Gedanken Briefe diktieren und verschriften lassen können – schneller als jeder Profi sie tippen könnte. Das ist fern jeder Realität. Aber mit Gehirn-Hokuspokus lässt sich eben Aufmerksamkeit schüren und mitunter auch viel Geld verdienen. Auch das sogenannte Neuromarketing, bei dem Menschen unter der Bewusstseinsschwelle manipuliert werden sollen, ist hochgradig unseriös.

In Wirklichkeit sind die Möglichkeiten minimal, Menschen mit Botschaften unterhalb der Schwelle ihres Bewusstseins zu beeinflussen.

Aber Neuromarketing scheint doch zu funktionieren. Sie kennen sicher das berühmte Experiment aus den 1950er Jahren: Im Kino wurde den Zuschauern während eines Films immer wieder für Sekundenbruchteile der Slogan «Esst Popcorn, trinkt Cola!» eingeblendet – so kurz, dass sie das nicht bewusst mitbekamen. Prompt konsumierten sie in der Pause viel mehr Popcorn und Cola als sonst.

Ich muss Sie leider enttäuschen. Dieses Experiment hat so nie stattgefunden. Der amerikanische Marketing-Experte James Vicary hat den Mythos 1957 in die Welt gesetzt. Wenige Jahre später gab er selbst zu, dass es eine Erfindung gewesen war. In Wirklichkeit sind die Möglichkeiten minimal, Menschen mit Botschaften unterhalb der Schwelle ihres Bewusstseins zu beeinflussen.

Tatsächlich? Man liest zum Beispiel oft von Duftstoffen, die uns in Geschäften unbewusst zum Kaufen anregen.

Das ist ein anderes Thema. Es gibt Reize, die – anders als die ominösen Werbeslogans von James Vicary – eben nicht unterhalb der Bewusstseinsschwelle liegen, im Alltag aber kaum bemerkt werden. Dazu gehört zum Beispiel heimeliges, warmes Licht in einem Supermarkt. Man fühlt sich wohl, entspannt sich – und gibt mehr Geld aus als sonst. Wenn Sie dann aber jemand fragen würde: «Wie ist das Licht?», dann könnten Sie dessen Farbe beschreiben und sagen, dass Sie es als angenehm empfinden. Der Reiz ist Ihrem Bewusstsein also durchaus zugänglich. Nur über die Zusammenhänge zwischen warmem Licht, Entspannung und Kauflust machen Sie sich vermutlich keine Gedanken. Solche Dinge beeinflussen uns also sehr wohl.

Und das lässt sich kommerziell ausnutzen.

Ja, aber manche Marketingstrategen gehen inzwischen viel weiter: Sie messen Hirnaktivierungsmuster und behaupten, auf dieser Basis Produkte so optimieren zu können, dass diese grösstmögliche Kaufimpulse auslösen. In erster Linie konzentriert man sich dabei auf die sogenannten Belohnungszentren, die in den Basalganglien unter der Grosshirnrinde liegen. Wenn Sie mir jetzt zum Beispiel ein leckeres Stück Kuchen anbieten, dann reagieren diese Belohnungszentren. Die zentrale Frage lautet nun: Kann man diese Areale durch das Design von Produkten so stimulieren, dass Menschen ein unwiderstehliches Verlangen entwickeln, sie zu kaufen?

Klingt nach einer schlauen Idee.

Es funktioniert aber nicht. Denn eigentlich ist der Begriff «Belohnungszentren» unglücklich gewählt. Diese Gehirnareale reagieren nämlich auch auf viele andere Reize. Zum Beispiel wenn man sich bei einer Tätigkeit besonders viel Mühe gibt. Oder wenn etwas Ungewöhnliches auftaucht. Mein Lieblingsbeispiel dazu ist das «Wiener-Mobil»: ein Auto, das aussieht wie ein Wienerli auf Rädern – grotesk auffällig. In Neuromarketing-Studien zum Design von Autos würde es die Belohnungszentren im Gehirn vermutlich stark anregen. Aber glauben Sie ernsthaft, jemand würde sich ein solches Auto kaufen?

Besonders spektakulär waren die Experimente, bei denen Sie und Ihr Team durch Aktivierungsmuster im Gehirn vorhersagen konnten, wie sich Testpersonen entscheiden werden.

Studien anderer Forschergruppen wiesen schon vor Jahrzehnten in diese Richtung: Wenn man denkt, eine Entscheidung zu fällen, scheint sie im Gehirn bereits eine halbe Sekunde vorher gefallen zu sein. Wir wollten dieses angebliche Phänomen experimentell überprüfen: Unsere Probanden sollten sich bei einem Test in aller Ruhe Zeit lassen und sich auf einer Tastatur schliesslich entweder den rechten oder den linken Knopf aussuchen.

Und?

Mithilfe der Kernspintomografie konnten wir anhand der Gehirnaktivität bereits bis zu sieben Sekunden zuvor vorhersagen, für welchen Druckknopf die jeweilige Testperson sich entscheiden wird.

Auch wenn eine Entscheidung im Gehirn angebahnt wird, können sich Menschen noch bis zu 200 Millisekunden davor umentscheiden. Wir sind also nicht die Sklaven unseres Gehirns!

Menschen tun also nur, was ihnen ihr Gehirn bereits zuvor befohlen hat. Bedeutet das, dass der Mensch nicht für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden kann?

Weil so schwerwiegende Fragen im Raum standen, warf die Publikation unserer Ergebnisse hohe Wellen. Allerdings erreichten wir bei unseren Vorhersagen – und das wird oft übersehen – nur eine Trefferquote von rund sechzig Prozent. Das ist zwar eindeutig besser als Zufall, aber auch nicht viel mehr.

Liesse sich das optimieren?

Schwer zu sagen. Vielleicht waren unsere Messgeräte noch nicht gut genug. Naheliegender erscheint uns aber inzwischen, dass Entscheidungen – ganz egal, ob sie so simpel sind wie in unserem Experiment oder viel komplizierter und folgenreicher – gleichsam nur vorgebahnt werden im Gehirn. Das «Handlungspotenzial», das wir im Kernspintomografen sehen, wäre dann nur ein Indikator für die Tendenz zu einer bestimmten Handlung – nicht für eine definitive Entscheidung dafür.

Wie kommen Sie darauf?

Anfangs stellten wir uns das Prinzip ähnlich wie bei einer Kettenreaktion mit Dominosteinen vor: Am Anfang steht ein besonderes Aktivierungsmuster im Gehirn, eben dieses Handlungspotenzial – und einige Sekunden später vollzieht die Person zwangsläufig die entsprechende Handlung. Daher wollten wir in einem zweiten Schritt abklären, ob Menschen diese Kausalkette noch durchbrechen können.

Können sie das?

Auch wenn eine Entscheidung im Gehirn angebahnt wird, können sich Menschen noch bis zu 200 Millisekunden davor umentscheiden. Erst danach wird das schwierig. Wir sind also nicht die Sklaven unseres Gehirns!

Sie organisieren regelmässig Symposien zur «Ethik in den Neurowissenschaften». Wird da auch übers Gedankenlesen diskutiert?

Selbstverständlich. Mir ist es wichtig, darüber realistisch aufzuklären. Dazu gehört, die riesigen Erwartungen eher zu dämpfen. Aber auch ich gehe davon aus, dass wir künftig mit genaueren Messverfahren noch viel mehr über die Codierung von Gedanken im Gehirn herausfinden werden. Das könnte tolle Chancen bieten.

Woran denken Sie?

In meinem Buch erwähne ich den Fall einer Kindesentführung in Deutschland. Der stellvertretende Frankfurter Polizeipräsident drohte einem Verdächtigen da sogar Folter an, damit dieser das Versteck des entführten Knaben verrate. Könnte man wichtige Informationen mit bildgebenden Verfahren und den richtigen Algorithmen einfach aus den Erinnerungen und Gedanken von Tatverdächtigen herausfiltern, wäre das natürlich humaner.

NZZ am Sonntag, Wissen