Ignazio Cassis im Gespräch: «Selenski würde mich gerne jeden Tag in der Ukraine haben»

Ignazio Cassis im Gespräch«Selenski würde mich gerne jeden Tag in der Ukraine haben»

Warum sanktionieren Sie Putin, ohne das Schweizer Volk zu fragen? Und ist unser Land noch neutral? Bundespräsident Ignazio Cassis stellte sich den Fragen der 20-Minuten-Community.

Deine Meinung

Dienstag, 10.05.2022

Schluss

Damit ist der Talk mit Bundespräsident Ignazio Cassis vorbei. Schön, dass du dabei warst. Cassis äusserte sich zu den Sanktionen gegen Russland. Damit bleibe die Schweiz neutral, versicherte er. Waffen in die Ukraine könne die Schweiz aber nicht liefern, dafür bräuchte es eine Gesetzesänderung. Cassis versichert aber, dass die Schweiz gute Beziehungen zur Ukraine und zu Russland habe und immer eine Brückenbaufunktion haben könne.

20Min

Krisenmodus

Sie sind in diesem Jahr der Bundespräsident und sozusagen der Chef im 7er-Gremium. Was läuft mit Ihnen als Chef anders als unter Ihrem Vorgänger?

Das ist schwierig zu beantworten. Ich bin der erste Bundespräsident, der das Land von einer Krise in die nächste führt. Ich habe nicht einmal 24 Stunden zwischen der Corona-Krise und dem Ukraine-Krieg gehabt. Ich habe alles dafür zu tun, dass der Gesamtbundesrat richtig funktionieren kann und dass der Zusammenhalt in der Schweiz verstärkt wird.

Neutralitätsinitiative

SVP-Altbundesrat Christoph Blocher hat ja angekündigt, eine Neutralitätsinitiative lancieren zu wollen. Sanktionen gegen Russland wären dann nicht mehr möglich. Aus Ihrer Sicht: Würde nur schon die Abstimmung der Schweiz imagemässig schaden?

Bei jedem Krieg gab es wieder grosse Diskussionen über die Neutralität. Ich finde es unentbehrlich, dass die Schweizer Bevölkerung über die Neutralität diskutiert. Sie ist für alle wichtig. Deshalb müssen wir uns damit beschäftigen. Wir müssen uns fragen, ob es Änderungen braucht, oder nicht. Diese Diskussion wird uns für die nächsten zwei bis drei Jahre begleiten.

20Min

Neutralität

Ist die Ukraine-Geber-Konferenz mit der Schweizer Neutralität zu vereinbaren? Das Signal, das die Schweiz mit einer Ukraine-Geber-Konferenz aussendet, dürfte in Russland eher nicht gut ankommen. Eigentlich müssten Sie auch Putin nach Lugano einladen …

Diese Konferenz war schon vor dem Krieg vorgesehen, um der Ukraine bei Reformen zu helfen, bei der Regierung, bei Banken und so weiter. Mit dem Krieg wurden diese Themen natürlich weniger wichtig. Es passt jetzt wirklich nicht, Russland einzuladen. Russland ist der Aggressor.

Sofa

Kevin: Ihr Sofa hat ja mal national für Aufsehen gesorgt. Darum möchte ich wissen: Haben Sie das Sofa mit den blauweissen Blumen drauf noch?

Ja, das Sofa haben wir immer noch, das ist ein Muss für meine Frau. Neu haben wir noch ein Porträt der Queen über dem Sofa aufgehängt.

Das Sofa von Cassis in einer Fotomontage.

Das Sofa von Cassis in einer Fotomontage.

Olivier Samter

Spritpreise

@ediison: Wegen des Krieges sind die Spritpreise gestiegen. Was tun Sie als Bundespräsident für eine Benzinpreisreduktion?

Ich weiss, dieses Thema beschäftigt alle Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz, deshalb beschäftigen wir uns natürlich auch damit.

20min/Simon Glauser

Flüchtlinge

Sven: Es wird in der Schweiz sehr viel gemacht für die Geflüchteten aus der Ukraine. Doch wie sieht es aus für die Hilfe für Schweizerinnen und Schweizer? Es gibt Leute, die wegen der gestiegenen Preise jetzt an der Armutsgrenze leben. Hier sollte der Bundesrat auch helfen und dafür sorgen, dass das Land zusammenhält.

Ich habe vorhin gesagt, dass wir nicht im Krieg sind, aber indirekt vom Krieg betroffen sind, beispielsweise in der Energieversorgung. Falls wir kein Gas oder Öl mehr aus Russland importieren können, wäre die Folge, dass die Preise steigen. Dann stellt sich die Frage natürlich schon. Wir machen uns Gedanken, welche Mechanismen es geben könnte, um unerwünschte Folgen der Sanktionen zu verhindern. Im Moment haben wir die Energieversorgung gesichert. Auch die Ernährung ist ein wichtiger Punkt, wir sehen bereits heute Hungernöte wegen hohen Getreidepreisen.

Waffenlieferung

Petra: Was halten Sie von der Forderung von FDP-Präsident Thierry Burkhart, dass die Schweiz die Ausfuhr von Schweizer Waffen über Drittländer in die Ukraine erlauben soll?

Zu den Eckwerten der Neutralität gehört es, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, das verbietet das Gesetz. Das können wir deshalb nicht tun. Aber man kann die Gesetze natürlich ändern.

20Min

Ukraine-Besuch

Alex: Nationalratspräsidentin Irène Kälin war ja kürzlich zu Besuch in der Ukraine. Wie bewerten Sie als Aussenminister und Bundespräsident diesen Besuch Kälins?

Das Parlament ist ein Staatsorgan und bestimmt selber, wen es besuchen will. Für das Parlament war der Besuch aus symbolischen und politischen Gründen wichtig, dafür habe ich Verständnis. Ich habe mich mit Irène Kälin zum Besuch ausgetauscht und der Besuch hat der Schweiz symbolisch und politisch etwas gebracht.

Selenski

Renato fragt: Sie haben den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski als Freund bezeichnet. Hat Sie Selenski bereits in die Ukraine eingeladen?

Selenski würde mich gerne jeden Tag in die Ukraine einladen, um zu zeigen, dass wir eine gute Beziehung haben. Er lädt mich aber nicht ein, weil es keinen Sinn ergibt, wenn ich auch mit ihm telefonieren kann. Auf solche Symbolik können wir verzichten, viel wichtiger ist was hinter den Kulissen passiert. Wenn er mich einladen würde, hätten wir wohl ein Problem, weil wir so gute Beziehungen aufgebaut haben.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski

REUTERS

Saudis

Jörg: Wieso sanktioniert die Schweiz nicht auch den saudischen Prinz, der Regimekritiker ermorden lässt, etwa den Journalisten Jamal Khashoggi?

Weil die Uno und die EU keine Sanktionen gegen Saudi-Arabien erstellt haben. Die EU hat neu Sanktionen für bestimmte Menschen, wir haben das aber noch nicht in unseren Gesetzen.

Firmen in Russland

Weshalb erlaubt der Bundesrat immer noch Schweizer Firmen in Russland?

Weil sie selber entscheiden, ob sie dort bleiben wollen, mit allen Risiken, die es in Russland gibt. Der Bundesrat bestimmt nicht darüber, ob die Firmen dort sein dürfen oder nicht. Das ist auch gut so in einer freien Demokratie mit freier Marktwirtschaft.

Defensiver Bundesrat?

Nomis: Lieber Herr Cassis. Zuerst mal vielen Dank für Ihren Einsatz. Meine Frage: Aus völkerrechtlicher Sicht sind die Grenzen der möglichen Sanktionen gegenüber Russland noch lange nicht ausgeschöpft. Wieso agieren Sie und Ihre Kollegen und Kolleginnen so defensiv?

Danke für die schönen Worte, das freut mich. Der Bundesrat überlegt sich einiges, wenn er Sanktionen der EU übernimmt. Sanktionen die nur von der Schweiz übernommen würden, ergäben keinen Sinn, weil wir klein sind. Wir haben bis jetzt alle EU-Sanktionen übernommen. Viel mehr können wir gar nicht tun. Wir werden wohl auch das kommende sechste Sanktionspaket umsetzen.

20Min

Sanktionen

Willhelm Tell: Warum haben Sie im Ukraine-Krieg Sanktionen ergriffen, ohne zuvor das Schweizer Volk zu fragen? Das Volk ist der Chef.

Die Schweiz entscheidet Sanktionen aufgrund von Gesetzen. Das Volk hat die Gesetze akzeptiert. Gemäss dessen muss der Bundesrat Sanktionen der Uno umsetzen, weil wir Mitglied von ihr sind. Wir können auch Sanktionen der EU umsetzen. In den letzten Jahren haben wir 80 Prozent aller EU-Sanktionen übernommen, auch wenn wir keine Pflicht dazu hatten.

Atomkrieg

Können Sie die Ängste des atomaren Kriegs nachvollziehen?

Ja, natürlich. Wir haben bei jedem Krieg Debatten über die Neutralität geführt, das ist nicht neu. Ich habe Ende März einen Bericht in Auftrag gegeben für eine Aktualisierung des Neutralitätskonzepts. Das soll uns helfen, das auch historisch einzuordnen und in der politischen Diskussion helfen wird. Zur Angst vor dem Atomkrieg: Bei einer Eskalation gibt es die Möglichkeit von Atombomben, darauf bereiten wir uns natürlich auch vor. In einem Krieg kann man leider nie etwas ausschliessen.

20Min

Neutralität

René: Warum bleibt die Schweiz nicht richtig neutral und vermittelt einfach nur? Mit der Übernahme der Sanktionen schlagen wir uns auf eine Seite der USA und riskieren noch einen atomaren Krieg.

Ich kann René versichern, dass wir neutral bleiben. Die Neutralität hat einen harten Kern: das Recht der Neutralität. Die Politik der Neutralität entwickelt sich aber im Wandel der Zeit. Dieses Mal war der Bruch der Uno-Charta so gravierend, dass wir nicht schweigen konnten, wir mussten das sehr laut verurteilen und sagen, dass es so nicht geht. Deshalb haben wir aber nicht die Neutralität verloren.

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Gian will wissen: Wieso konnte die Schweiz nicht offensiv eine Vermittlerrolle zwischen der Ukraine und Russland einnehmen? Haben Sie diese Rolle genug gesucht?

Es gab Diplomatie vor, während und nach dem Krieg. Vor dem Krieg haben wir enorm viel gemacht, Blinken und Lawrow waren in Genf und ich war auch dabei, wir haben viel gemacht, dass der Krieg nicht zustande kommt. Leider haben wir das Ziel nicht erreicht. In der Phase während des Kriegs haben wir klar unsere Werte benannt und sind dabei in die Liste unfreundlicher Länder von Russland aufgenommen worden. Deshalb können wir im Moment wenig diplomatisch vermitteln. Nach dem Krieg beim Wiederaufbau des Landes wird wiederum grosse Diplomatie nötig sein, denken Sie an die Beziehung zwischen der Ukraine und Russland. Wir können etwas tun, wenn beide Seiten wollen, dass wir etwas tun. Wir sind immer in Kontakt mit beiden Ländern, wir dürfen keine Beziehungen stoppen. Wir können immer eine Brückenbaufunktion haben.

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Wiederaufbau Ukraine

Jetzt kommen Leserfragen. Elvira fragt: Was halten Sie von der SP-Idee, in der Schweiz blockiertes Oligarchen-Geld für den Wiederaufbau in der Ukraine zu verwenden. Der Vorschlag findet ja sogar in der FDP Unterstützung.

Die grosse Frage ist, wann endet der Krieg und wann können wir mit dem Wiederaufbau des zerstörten Landes beginnen und was kostet das. Gemäss heutigen Schätzungen mindestens 600 Milliarden Dollar, eine unglaubliche Menge. Eine Möglichkeit wäre, das eingefrorene Oligarchen-Vermögen dafür zu nutzen, das ist aber eine Enteignung. Dafür bräuchten wir eine besondere Regel im Gesetz oder vielleicht sogar in der Verfassung. Es wäre möglich, aber es wäre ein langer Weg und der Bundesrat hat die Diskussion noch gar nicht geführt. Ein Sololauf der Schweiz würde aber auch nichts nützen, die internationale Gemeinschaft müsste sich dafür entscheiden. Der Wiederaufbau der Ukraine wird das Hauptthema einer Konferenz in der Schweiz im Juli sein.

Anwaltsgeheimnis

Das Schweizer Anwaltsgeheimnis könnte unter Druck kommen. Die G7-Länder wollen ja Beratungsdienste für Russen untersagen. Wie sehen Sie das, Herr Bundespräsident: Müssen auch Anwälte ihren Beitrag leisten?

Das Ziel ist, die Umsetzung der Sanktionen gut zu machen. Wir sind in engem Kontakt mit Washington und haben erklärt, was genau gemacht werden soll. Wir sind froh, wenn ähnliche Umsetzungsmechanismen in allen Ländern gelten, dann gibt es gleich lange Spiesse.

Oligarchen-Gelder

In der Schweiz hat es sehr viele Gelder russischer Herkunft, die Rede ist von 200 Milliarden. Nur 7,5 Milliarden wurden bisher blockiert. Sehen Sie da ein Reputationsproblem auf die Schweiz zukommen?

Nein, überhaupt nicht. Man darf nicht zwei Dinge vermischen. Das Geld ist nicht schlimm, weil es russisch ist, sondern weil es den Oligarchen gehört. Die Frage ist, wie viel den Oligarchen gehört. Wir haben bis jetzt acht Milliarden Franken eingefroren von sanktionierten Personen. Wir haben etwa 1000 Menschen auf der Sanktionsliste. Deren Gelder werden eingefroren, nicht die Gelder von Otto-Normal-Verbrauchern in Russland. Ich höre viel Lob im Ausland für das eingefrorene Vermögen, da stehen wir nicht schlecht da im internationalen Vergleich.

Bankenplatz Schweiz

Was vermuten Sie hinter dieser US-Attacke? Will da jemand dem Bankenplatz Schweiz schaden?

Darüber kann man spekulieren. Die Teilnehmer hatten gute Gründe, mit der Schweiz unzufrieden zu sein. Da geht es um gerichtliche Auseinandersetzungen, aber das würde im Detail zu lange gehen um es zu diskutieren. Es ist sicher ein Teil der Agenda, dass man dem Bankenplatz Schweiz schaden will.

REUTERS

Kontakte

Haben Sie Ihren Amtskollegen Antony Blinken angerufen und protestiert? Oder wie muss man sich eine Reaktion auf höchster Ebene vorstellen?

Das Wichtigste ist, dass man vor dem Aufkommen einer Krise Beziehungen hat. Man muss miteinander sprechen können und Vertrauen aufbauen. Beziehungen sind das A und O in der Politik.

US-Vorwürfe

Letzte Woche hat eine amerikanische Regierungskommission massive Vorwürfe gegen die Schweiz erhoben. Unser Land wurde als «Putins Gehilfin bezeichnet». Wie haben Sie reagiert, als Sie diese Vorwürfe gehört haben?

Ich habe im Vorfeld agiert, weil der Text nicht akzeptabel war. Ich habe beim US-Aussenminister gesagt, dass das nicht geht. Es ist aber keine formelle Position der Vereinigten Staaten, das hat mir der US-Aussenminister bestätigt. Er fand viele lobende Worte für die Schweiz, unsere Beziehungen sind intakt.

US-Aussenminister Antony Blinken

US-Aussenminister Antony Blinken

POOL

Optimismus?

Wie bewerten Sie das, was Putin gesagt hat? Immerhin hat er nicht von eine Generalmobilmachung angekündigt oder eine Kriegserklärung ausgesprochen. Stimmt Sie das etwas optimistisch?

Vorerst gab es keine Überraschung. Man kann nicht viel Positives in dieser Zeit sehen, aber es ist gut, dass es keine Eskalation gab. Vergessen wir nicht, dass Krieg herrscht in Europa. Überraschungen sind Teil des Krieges und die Wahrheit stirbt im Krieg zuerst. Es gibt immer eine Begleitmusik, die man Informationskrieg nennt.

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