Gewalt gegen Pflegepersonal – «Ich wurde angegriffen und mit dem Tod bedroht»

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Gewalt gegen Pflegepersonal«Ich wurde angegriffen und mit dem Tod bedroht»

Verschiedene Spitäler in der Schweiz melden, dass Gewalt von Patienten zunimmt. Drei Betroffene berichten von Übergriffen, verbaler Gewalt – und Drohungen von Angehörigen.

Darum gehts

Gewaltsame Übergriffe gegenüber Gesundheitspersonal haben in den vergangenen Jahren stark zugenommen – das bestätigen mehrere Spitäler schweizweit auf Anfrage von 20 Minuten. Im Inselspital Bern etwa sei es im Jahr 2021 zu über 1600 schwerwiegenden Übergriffen gekommen – 2016 waren es rund 600.

«Die steigende Gewalt gegen Pflegende ist bei uns seit Jahren ein Thema, aber seit Corona merkt man deutlich, dass die Leute dünnhäutiger geworden sind», sagt Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des Schweizer Berufsverbandes der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK). Drei betroffene Mitarbeitende des Gesundheitswesens erzählen von ihren Erfahrungen mit gewaltsamen Patienten und Begleitpersonen.

A. F.* (29): Expertin Intensivpflege

«Ich arbeite seit 15 Jahren in der Pflege und erlebe immer wieder Gewalt bei der Arbeit. Seien es Patienten, die einen Entzug durchmachen oder Angehörige, die verzweifelt sind: Solche Fälle sind nicht einfach. Ein Patient schlug etwa in einer Psychose mit dem Infusionsständer die Scheiben ein und ging mit dem Messer auf mich los. In einem anderen Fall schlich eine Frau im Delirium während der Nachtschicht in mein Büro, warf einen Stuhl auf mich und ging auf mich los. Sie war eine kleine Frau, doch im Delirium entwickelte sie eine ungeheure Kraft. Zum Glück eilten mir Kolleginnen und Kollegen von anderen Stationen zur Hilfe.

Es gibt auch viele andere Fälle, in welchen der Übergriff nicht aufgrund eines psychischen Leidens erfolgt. Während Corona erfuhren wir etwa sehr viel verbale Gewalt, oft von Angehörigen von an Covid-19 erkrankten Personen. Wegen des Besuchsverbots oftmals am Telefon. Ich kann verstehen, dass es schwierig ist, seine Liebsten in einer solch kritischen Situation nicht zu sehen, aber dabei gehen viele zu weit. Wir werden beleidigt und bedroht. «Falls meine Partnerin nicht überlebt, finde ich eure Familie», sagt mir etwa ein Mann. Das schlägt aufs Gemüt, man ist müder und empfindlicher.»

Anonym (28): Pflegefachfrau

«Ich bin schon mit blutender Nase aus dem Patientenzimmer gekommen, habe auch schon Tritte in den Bauch bekommen, sodass ich danach blaue Flecke hatte. Verbale Gewalt wird mir auf monatlicher Basis angetan – wenn nicht sogar öfters. Auch sexuelle Kommentare muss ich mir sehr oft anhören. Meistens stammen diese von Männern ab 50 oder 60. Sie sagen etwa, dass eine Nacht mit mir sie wieder gesund machen würde oder ähnliche Sachen. Nicht nur ich erlebe das, sondern sehr viele Frauen im Gesundheitswesen. Ein solches Verhalten geht gar nicht, leider hören die Täter aber erst damit auf, wenn sie ein anderer Mann zurechtweist.

Um gegen physische und verbale Gewalt etwas machen zu können, wäre es von Vorteil, wenn wir nur noch zu Zweit «spezielle» Patienten betreuen würden. Doch das ist nicht realistisch: Wir haben viel zu wenig Personal, um so etwas strikt umzusetzen.»

T. M.* (30): Pflegefachmann in einer psychiatrischen Klinik

«Ein Mann mit Flüchtlingsstatus rastete letztes Jahr komplett aus, als wir bei ihm keine psychische Erkrankung feststellen konnten - und ihm damit die Ausschaffung drohte. In seiner Wut hob er einen Glastisch hoch und schmetterte ihn auf den Boden, demolierte den Eingang zur Cafeteria und verletzte dabei zwei Mitarbeitende, die versuchten, ihn wieder zur Raison zu bringen. Solche Fälle häufen sich an meinem Arbeitsort.

Man denkt gerne, dass die Menschen in einer psychiatrischen Klinik nicht urteilsfähig sind. Tatsächlich trifft das aber nur auf rund 15-20 Prozent der Patienten zu. Das Ende einer Behandlung ist oft mit grossen Problemen verbunden – bei einem Patient war das nach zwei Jahren. Zuerst wurde er verbal ausfällig, drohte mit Anzeigen. Dann begann er Drohbriefe an seine primäre Bezugsperson in der Klinik zu schreiben, fand ihre Adresse heraus und klingelte bei ihr. Es endete damit, dass der Mann ein einjähriges Rayonverbot bekam. Es ist kein Einzelfall: In den acht Jahren auf der Station wurde ich mindestens zehn mal angegriffen und zwei Mal mit dem Tod bedroht.»

*Namen der Redaktion bekannt.

Bist du oder ist jemand, den du kennst, von sexualisierter, häuslicher, psychischer oder anderer Gewalt betroffen?

Hier findest du Hilfe:

Polizei nach Kanton

Beratungsstellen der Opferhilfe Schweiz

Lilli.ch, Onlineberatung für Jugendliche

Frauenhäuser in der Schweiz und Liechtenstein

Zwüschehalt, Schutzhäuser für Männer

Agredis, Gewaltberatung von Mann zu Mann, Tel. 078 744 88 88

LGBT+ Helpline, Tel. 0800 133 133

Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143

Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147

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