«Unsere Standardversion der Geschichte ist falsch», sagt der Archäologe David Wengrow

David Wengrow hat zusammen mit dem Anthropologen David Graeber ein Buch geschrieben. Es zeigt: Die Geschichte der Menschheit verlief ganz anders, als wir gemeint haben. Freiheit wurde immer wieder neu erfunden.

Martina Läubli 10 min
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Siedlung der Wendat am Lake Huron. Ein Jesuit schrieb über die Wendat, es gebe keine freieren Menschen als sie.

Siedlung der Wendat am Lake Huron. Ein Jesuit schrieb über die Wendat, es gebe keine freieren Menschen als sie.

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NZZ am Sonntag: Herr Wengrow, Sie haben als Archäologe alte Stätten an verschiedenen Orten der Welt untersucht. Wenn Sie auswählen könnten: Wo und wann würden Sie am liebsten leben?

David Wengrow: Ich würde gern vor 6000 Jahren nördlich des Schwarzen Meers in der heutigen Ukraine leben. Dort existierten grosse dezentrale Städte mit Tausenden von Menschen – aber ohne Könige, ohne Priester, ohne Tempel, ohne jede Art von Hierarchie. Wenn man die Häuser und Überreste dieser Menschen untersucht, sieht es aus, als ob sie eine gute Zeit hatten. Ich würde gerne herausfinden, wie sie das gemacht haben, eine so freie Gesellschaft zu bilden.

Wie können wir wissen, wie das Leben der Menschen zu früherer Zeit wirklich war?

Das ist einerseits schwierig, weil wir oft keine schriftlichen Quellen haben. Anderseits sagt die archäologische Evidenz viel über die Vergangenheit. Manchmal widerspricht sie auch unseren Annahmen, zum Beispiel über die letzte Steinzeit. Heute denken viele, dass die Menschen vor 20 000 bis 30 000 Jahren simple Jäger und Sammler waren. Dass es damals keine Ungleichheit und keine Hierarchien gab, aber auch keine hoch entwickelte Kultur. Aber die archäologischen Funde zeigen: Das stimmt nicht.

Was hat man stattdessen gefunden?

Es gab in ganz Europa steinzeitliche Begräbnisse von Menschen, die wie Könige und Königinnen aussehen. Diese Gräber sind mit Kostümen, Insignien und schönen Ornamenten ausgestattet. In Ligurien fand man zum Beispiel den «Kleinen Prinzen», einen steinzeitlichen Jäger, der mit seinem königlichen Zepter aussieht wie ein Prinz. Das wirft Fragen auf: Warum gab es in vermeintlich egalitären Gruppen aristokratische Begräbnisse? Diese Gräber zeigen uns, dass an unserer Standardversion der Geschichte etwas grundsätzlich falsch ist.

Was meinen Sie mit Standardversion?

Ich meine die Vorstellung, dass die Menschen zuerst Jäger und Sammler waren, dann zu sesshaften Bauern wurden und sich daraus später die modernen Staaten entwickelt haben. Das ist ein Mythos.

Zu diesem Mythos gehöre auch die Erfindung der Landwirtschaft, schreiben Sie in Ihrem Buch. Hat es die neolithische Revolution gar nicht gegeben?

Die Forschung zeigt klar, dass es keine neolithische Revolution gab. Ausser man definiert eine Periode von 3000 Jahren, in der an verschiedenen Orten Feldfrüchte oder Tiere gezüchtet wurden, als Revolution. Im archäologischen Institut in London, wo ich arbeite, befassen sich zahlreiche Forscher nur mit Archäobotanik. Sie untersuchen die mikroskopischen Überreste von Ausgrabungsstätten. So können sie den Prozess, in dem Mais in Mittelamerika domestiziert wurde, zurückverfolgen. Oder Weizen im Mittleren Osten. Das geschah nicht nur einmal, sondern immer wieder. Wir kennen mindestens zehn, eher fünfzehn landwirtschaftliche Entwicklungszentren auf der Welt. Die Konsequenzen waren nicht immer gleich. Denn die Gesellschaften waren nicht dieselben. Manche gaben die Landwirtschaft wieder auf, manche betrieben sie neben Jagen und Sammeln. Die Vorstellung einer linearen Evolution unserer Vorfahren hin zu Bauern ist falsch.

Viele Bücher über die Menschheitsgeschichte, etwa von Yuval Noah Harari, erzählen aber genau diese Version.

Die Bücher, die Sie meinen, sind nicht auf dem neusten Stand der Forschung. Autoren wie Noah Yuval Harari, Steven Pinker oder Jared Diamond halten am alten Mythos fest.

Die erwähnten Bücher, insbesondere das von Harari, sind Bestseller. Warum ist dieser Mythos der Entwicklung der Jäger und Sammler zu sesshaften Bauern so erfolgreich, wenn er doch falsch ist?

Ich habe Hararis «Sapiens» gelesen, es ist kein schlechtes Buch, es ist nur veraltet. Es folgt diesem mythischen Narrativ. Vielleicht sind die Leser dafür so empfänglich, genau weil Harari erzählt, was sie schon wissen. Das beginnt mit dem Philosophen Jean-Jacques Rousseau. Er schrieb 1754 eine Parabel über die Entstehung der Ungleichheit zwischen den Menschen und ihre Abwendung vom Naturzustand – als Denkexperiment. Diese Erzählung enthält auch Elemente aus der Bibel: der Fall der Menschen, der Verlust der Unschuld und der Gleichheit. Für uns ergibt diese Geschichte Sinn, weil wir mit diesem Muster aufgewachsen sind. Das macht sie aber nicht richtig.

Was genau ist das Problem an dieser Sicht auf Geschichte?

Um zu behaupten, dass wir von einem egalitären Urzustand abgefallen sind, muss man zuerst annehmen, dass es eine Zeit vor der Ungleichheit gab. Dass eine Gesellschaft der Gleichen existierte. Die Archäologie findet aber vor der Erfindung der Landwirtschaft keine egalitäre Gesellschaft. Stätten wie Göbekli Tepe in der Türkei mit seinen grossen Steinbauten haben nichts mit egalitärer Gesellschaft zu tun. Die Menschen dort lebten von wilden Ressourcen, und trotzdem errichteten sie steinerne Tempel.

Zur Person

David Wengrow
Kalphes Lathirga

David Wengrow

Wengrow, 49, ist Professor für Vergleichende Archäologie am University College in London. Wengrow forschte unter anderem in Ägypten und im Irak. Als er 2010 sein Buch «What Makes Civilization?» veröffentlichte, meldete sich der Anthropologe David Graeber (1961–2020) bei ihm. Aus einem E-Mail-Austausch entstand das Projekt, die frühe Menschheitsgeschichte mit Fokus auf die Freiheit neu zu schreiben. Ihr Buch «Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit» erscheint am 29. Januar bei Klett-Cotta (672 S., um Fr. 40.–).

Wenn die Entwicklungserzählung nicht zutrifft – in welcher Form soll Menschheitsgeschichte sonst erzählt werden?

In unserem Buch dekonstruieren wir Geschichtsschreibung als eine grosse Erzählung. Und wir erzählen Geschichte in Form von vielen kleinen Geschichten von echten Menschen. In diesen petites histoires geht es um Menschen wie wir, die mit den Paradoxien menschlicher Existenz kämpfen. Wir versuchen, nicht zu simplifizieren, unabhängig davon, ob die Dinge vor 300 oder 3000 oder 30 000 Jahren passiert sind. Es ist ein Versuch, Geschichte von unten zu schreiben.

In Ihrem Versuch, die Geschichte neu zu schreiben, rütteln Sie an den Fundamenten des europäischen Selbstverständnisses. Sie sagen, die Idee der Freiheit sei nicht in Europa erfunden worden. Aber wo dann?

Einige Ideen von Freiheit wurden schon in Europa erfunden. Aber nicht alle. Zudem ist der europäische Begriff von Freiheit ziemlich merkwürdig.

Merkwürdig?

Der alte europäische Freiheitsbegriff stammt aus mittelalterlichen und antiken Rechtssystemen, in denen Sklaverei als selbstverständlich galt. Freiheit definiert sich darin im Gegensatz zu Gefangenschaft und Sklaverei. Das setzt voraus, dass eine Person eine andere Person besitzen kann. Der lateinische Begriff abusus bezeichnet das Recht, das, was man besitzt, zu missbrauchen. Freiheit bedeutet in diesem Zusammenhang, jemanden so behandeln zu können, wie man will; ihn in eine Sache zu verwandeln. Das ist Freiheit auf Kosten einer anderen Person – und etwas ganz anderes als Freiheit im Sinn persönlicher Autonomie.

Und die persönliche Autonomie ist keine europäische Idee?

Sie war in den indigenen Gesellschaften Nordostamerikas auf jeden Fall weiter verbreitet. Diese hatten auch eine grosse Debattenkultur. Aus dem 17. und 18. Jahrhundert gibt es viele Berichte von Jesuiten oder Soldaten, welche die Begegnungen mit indigenen Gruppen dokumentieren, aber auch die Haltung der Indigenen gegenüber Europäern. Und die war sehr kritisch.

Was ist den Indigenen an den Europäern aufgefallen?

Sie waren fasziniert davon, wie strikt Europäer Befehle befolgten. Das war ihnen total fremd. Ihr Erstaunen darüber, wie sehr sich Europäer einem System von Status und sozialem Rang unterwarfen, ist breit belegt. Den Indigenen schien es absurd, dass ein Mensch gegenüber einem anderen fast wie ein Gott sein kann, und das oft auf der Basis von Besitz. Die indigenen Gruppen waren auch keine egalitären Gesellschaften. Aber dass aus materiellem Wohlstand eine Macht über andere Personen entstehen kann, leuchtete ihnen nicht ein. Ihre Freiheit hatte einen anderen Charakter. Es waren soziale und persönliche Freiheiten. Ein französischer Jesuit schrieb über den Stamm der Wendat, es gebe keine freieren Menschen als sie.

Worin bestand die Freiheit der Indigenen?

Zum Beispiel in sexueller Freiheit. Oder Bewegungsfreiheit. Weit verzweigte Clan-Systeme erlaubten es Individuen, von ihrem Dorf wegzuziehen, oft über weite Distanzen. Auf der Reise fanden sie in einem anderen Stamm stets ein Clan-Mitglied, das moralisch verpflichtet war, sie aufzunehmen. Dieses Prinzip der Gastfreundschaft ermöglichte eine grosse Bewegungsfreiheit. Das ist auch interessant mit Blick auf unseren Umgang mit Migration. Heute ist oft die Rede von einer «Migrationskrise». Aber man könnte es auch anders sehen: als eine Krise der Gastfreundschaft.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte basiert auch auf persönlichen Freiheiten. Sind die Menschenrechte nicht die Frucht der europäischen Aufklärung?

Als die europäischen Kolonisatoren auf die Menschen der sogenannten Neuen Welt stiessen, standen sie vor einem Denkproblem. Denn all diese Leute, die dem Christentum noch nie begegnet waren – was waren das für Kreaturen? Waren das überhaupt Menschen? Dies führte zur tragischen Situation, dass die Kommandanten der Kolonialmacht noch schnell die Sakramente lasen, bevor sie die Leute angriffen und töteten. Doch auch in Europa warf das Zusammentreffen mit anderen Menschen philosophische und rechtliche Probleme auf.

Warum?

Es wurde nicht von allen gutgeheissen, dass in Amerika ganze Völker ausradiert und gefoltert wurden. Dies führte zu einer Debatte über Menschenrechte. Man fragte sich: Welche Rechte hat ein Mensch, der noch nie mit dem Christentum oder, wie die Europäer es verstanden, mit der Zivilisation in Kontakt gekommen ist? Welches Recht hat ein Mensch allein dadurch, dass er ein Mensch ist? So entstand in der Aufklärung das Interesse für Menschenrechte, zugleich aber die verheerende Kategorisierung von Nichteuropäern als Menschen, die als weniger wert galten.

Wie definieren Sie als Archäologe Freiheit?

Archäologen hatten nie Mühe, das Gegenteil von Freiheit zu finden. Es gibt viele Studien über Könige, Chiefs, Unterdrückung. Aber es gibt auch Belege für konkrete Freiheiten wie die Bewegungsfreiheit. Viele Gemeinschaften teilten eine kulturelle Disposition, einen Kulturraum. Die Praxis der Gastfreundschaft, die Art, wie man ein Haus baut, wie man kocht, wie man den Körper schmückt im Leben und im Tod – all dies sind konkrete Zeichen von Menschen, die Gemeinschaften mit grosser Bewegungsfreiheit geformt haben.

Soziale Ordnungen hätten oft auch experimentellen Charakter, schreiben Sie.

Technologische Innovationen beginnen oft als Spiel. Das Schiesspulver wurde ursprünglich erfunden, um Feuerwerk zu zünden. Der Bergbau entstand dadurch, dass Menschen Pigmente suchten, um den Körper zu bemalen. Wenn Technologie diesen spielerischen Weg geht, warum sollte das nicht für soziale Beziehungen gelten? Wir wissen von Gesellschaften, welche die Landwirtschaft kultiviert hatten und sich wieder davon abwandten. Auch Formen sozialer Ungleichheit oder Dominanz begannen auf diese Art: als Spiele, die schrecklich schiefgingen. Es gibt Beispiele aus der ganzen Welt, wo Gesellschaften Könige oder Führer etablierten und sie danach wieder absetzten. Und zwar oft ohne gewalttätige Revolution.

Gilt dieses Experimentieren mit sozialen Formen auch für die Ordnung der Geschlechter? Der Gender-Unterschied diente in der Geschichte ja oft als Argument für Ungleichbehandlung.

Die Frage der Geschlechterungleichheit ist für Archäologen und Historiker eine schwierige. Die meisten Königreiche und Imperien funktionierten nach dem Modell des patriarchalen Haushalts. Ein Herrscher führt sein Reich wie ein Vater, der seine Familie, Frau und Kinder, beherrscht. Das scheint für Königreiche in Europa, Mesopotamien, im alten China, in Ägypten und im Inkareich zuzutreffen. Aber war das immer so? Prägte die patriarchale Struktur menschliche Gesellschaften von Beginn an? Oder veränderte sich irgendwann etwas? Das ist eine wichtige Frage.

Haben Sie eine Antwort?

Um dieser Frage nachzugehen, muss man mindestens offen sein für die Vorstellung, dass es einmal anders war. Und betrachtet man die Funde steinzeitlicher Gesellschaften, sehen sie überhaupt nicht patriarchal aus. In Çatalhöyük in der Türkei zum Beispiel scheint eine Gesellschaft existiert zu haben, in der die Männer die Frauen nicht beherrschten. Allerdings beherrschten die Frauen auch nicht die Männer. Es scheint eine Gesellschaft autonomer Menschen gewesen zu sein, weder Matriarchat noch Patriarchat. Wenn man also behauptet, das Patriarchat sei die natürliche Bedingung jeder Gesellschaft, ist das pure Spekulation.

Künstlerische Darstellung der jungsteinzeitlichen Siedlung Çatalhöyük.

Künstlerische Darstellung der jungsteinzeitlichen Siedlung Çatalhöyük.

Dan Lewandowski

Heute ist die Welt fix aufgeteilt in Staaten, die zum Teil sehr hierarchisch sind. Wie konnte es dazu kommen?

Die Antwort darauf ist kein Geheimnis, sondern moderne Geschichte. Es gibt überall auf der Welt Staaten, weil sie mit Zwang installiert wurden. Wir kennen die Geschichte des Imperialismus, des Kolonialismus und der Genozide. Es ist die Geschichte unserer Grosseltern und Urgrosseltern. Aber es gibt keinen Grund, dies als Ergebnis einer jahrtausendelangen Entwicklung darzustellen, die bis in die Steinzeit zurückgeht.

Warum nicht?

Wissenschaftlich betrachtet ist es Unsinn, eine gegenwärtige geopolitische Situation mit einem evolutionären Prozess zu erklären. Zu sagen, eine Welt der Nationalstaaten sei das Ziel der Geschichte, ist pure Ideologie. Immer wieder versuchte man, die archaische Urform des Staates zu finden, etwa in Ägypten, und daraus die heutige Ordnung abzuleiten. Aber das erklärt nicht, warum es in Mesopotamien Stadtstaaten gab und in Ägypten ein Königreich. Die Periode vor dem ersten Pharao nennt man «prädynastische Periode». Rückblickend tut man so, als ob die Menschen 1000 Jahre lang nichts anderes getan hätten, als einen König zu finden. Das ist Nonsens. Sie haben ganz bestimmt etwas anderes getan.

Es war also alles ganz anders?

Die bekannte Geschichte enthält vielleicht ein Korn Wahrheit, einen möglichen Weg. Aber es gab andere Wege, die wir nicht genommen haben. Das Mythische daran ist, so zu tun, als sei dieser Weg der einzig mögliche.

Sie haben das Buch zusammen mit dem Anthropologen David Graeber geschrieben. Er starb unerwartet, wenige Wochen nachdem Sie das Buch abgeschlossen hatten. Ist «Anfänge» nun ein Vermächtnis geworden?

Für David Graeber und mich war dieses Projekt immer der Anfang von etwas. Und es war ein grosses Spiel. Wir arbeiteten daran, wenn wir Lust hatten, zehn Jahre lang. Wir hatten auch schon weitere Bände geplant. Nun liegt es an uns allen, Davids Ideen aufzugreifen und weiterzudenken. Natürlich ist es ein Vermächtnis.

David Graeber

Erfinder der «Bullshit Jobs»
Kalphes Lathirga

Erfinder der «Bullshit Jobs»

Der Anthropologe und Anarchist David Graeber war ein aussergewöhnlicher Denker. Der Amerikaner lehrte an der London School of Economics und schrieb einflussreiche Bücher wie «Schulden» oder «Bullshit Jobs». 2011 beteiligte er sich an der Protestbewegung «Occupy Wallstreet». David Graeber starb im September 2020 mit 59 Jahren unerwartet an inneren Blutungen. Seine Ehefrau Nika Dubrovsky vermutet, dass eine Covid-19-Erkrankung ein paar Monate zuvor die Ursache gewesen sein könnte.