Gutachten mit hunderten Opfern – Hat der emeritierte Papst Benedikt XVI. pädophile Priester gedeckt?

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Gutachten mit hunderten OpfernHat der emeritierte Papst Benedikt XVI. pädophile Priester gedeckt?

Deckte der heute emeritierte Papst Benedikt XVI. pädophile Priester? Joseph Ratzinger bestreitet das. Ein neues Missbrauchsgutachten kommt zu einem anderen Schluss.

Darum gehts

Der emeritierte Papst Benedikt XVI. ist in einem neuen Gutachten zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising schwer belastet worden.

Benedikt habe als damaliger Münchner Erzbischof Joseph Ratzinger in vier Fällen nichts gegen die des Missbrauchs beschuldigte Kleriker unternommen, teilten die Gutachter am Donnerstag in München mit. In einer Stellungnahme bestritt Benedikt demnach seine Verantwortung «strikt», die Gutachter halten dies aber nicht für glaubwürdig, wie Rechtsanwalt Martin Pusch sagte. Sein Kollege, der Anwalt Ulrich Wastl, sprach von einer «Bilanz des Schreckens».

Gutachter: Ratzinger wusste von Priester Peter H.

In zwei der Fälle, bei denen die Gutachter ein Fehlverhalten des damaligen Münchner Erzbischofs sehen, sei es um Kleriker gegangen, denen mehrere begangene und auch von staatlichen Gerichten attestierte Missbrauchstaten vorzuwerfen seien. Beide Priester seien in der Seelsorge tätig geblieben, kirchenrechtlich sei nichts unternommen worden.

Ein Interesse an den Missbrauchsopfern sei bei Ratzinger «nicht erkennbar» gewesen. Die Gutachter sind mittlerweile auch überzeugt, dass Ratzinger Kenntnis von der Vorgeschichte des Priesters Peter H. hatte, der 1980 aus dem Bistum Essen nach München kam. H. war als Pädophiler verurteilt und missbrauchte später im Erzbistum München weiter.

«Verurteilter, untherapierbarer Mann arbeitete wieder mit Kindern»

Für das Gutachten ausgesagt hat etwa ein Stefan, der als 12-Jähriger im oberbayerischen Garching an der Alz von H. missbraucht wurde. «Diesen verurteilten und untherapierbaren Mann wieder in eine Gemeinde zu schicken, und wieder etwas aufbauen zu lassen, und wieder mit so viel Kindern und Jugendlichen arbeiten zu lassen, das macht einen einfach nur fassungslos», sagte er deutschen Medien.

Der Fall des Priesters Peter H. allein macht 370 Seiten des insgesamt mehr als 1700 Seiten starken, von Kardinal Marx in Auftrag gegebenen Gutachtens aus.

Dabei ist Kardinal Marx selbst in den Fall Peter H. involviert: Dem engen Vertrauten von Papst Franziskus wirft das Gutachten Fehlverhalten im Umgang mit zwei Verdachtsfällen von sexuellem Missbrauch vor.

Es gehe dabei um Meldungen an die Glaubenskongregation in Rom. Marx wollte letzten Frühling Verantwortung übernehmen und zurücktreten: «Ich bin ja Teil des Systems, das in weiten Teilen in der Frage des Missbrauchs versagt hat». Papst Franziskus nahm sein Rücktrittsgesuch damals nicht an.

Mindestens 497 Opfer

Insgesamt listet die neue Studie mindestens 497 Opfer auf. Dabei handele es sich überwiegend um männliche Kinder und Jugendliche, die in den Jahrzehnten des Untersuchungszeitraums zu Opfern wurden, teilte die Kanzlei mit. Mindestens 235 mutmassliche Täter gab es laut der Studie – darunter 173 Priester und neun Diakone. Allerdings sei dies nur das sogenannte Hellfeld. Es sei von einer deutlich grösseren Dunkelziffer auszugehen.

Das Gutachten kommt auch zu dem Schluss, dass viele Priester und Diakone auch nach Bekanntwerden entsprechender Vorwürfe weiter eingesetzt worden seien. 40 Kleriker seien ungeachtet dessen wieder in der Seelsorge tätig gewesen beziehungsweise dies sei geduldet worden. Bei 18 davon erfolgte dies sogar nach «einschlägiger Verurteilung», wie Rechtsanwalt Pusch sagte. Insgesamt seien bei 43 Klerikern «gebotene Massnahmen mit Sanktionscharakter» unterblieben.

Erzbischof glänzt mit Abwesenheit

Kardinal Reinhard Marx nahm nicht an der Vorstellung des lange erwarteten Gutachtens teil. «Er hat sich entschieden, dieser Einladung nicht zu folgen», sagte die Anwältin Marion Westpfahl. «Wir bedauern sein Fernbleiben ausserordentlich.» Marx hat für den Nachmittag eine Stellungnahme angekündigt. Marx ist ein enger Vertrauter von Papst Franziskus, der im vorigen Jahr seinen angebotenen Rücktritt abgelehnt hatte.

Der 1927 geborene Ratzinger war von 1977 an fünf Jahre lang Erzbischof von München und Freising. 1982 machte ihn Papst Johannes Paul II. zum Chef der mächtigen Glaubenskongregation, der Nachfolgerin der Römischen Inquisition. Nach dem Tod Johannes Pauls 2005 wählte ihn das Konklave zum Pontifex. Im Februar 2013 trat er überraschend zurück. Er lebt seither zurückgezogen im Vatikan.

Bist du minderjährig und von sexualisierter Gewalt betroffen? Oder kennst du ein Kind, das sexualisierte Gewalt erlebt?

Hier findest du Hilfe:

Polizei nach Kanton

Kokon, Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene

Castagna, Beratungsstelle bei sexueller Gewalt im Kindes- und Jugendalter

Beratungsstellen der Opferhilfe Schweiz

Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147

Bist du selbst pädophil und möchtest nicht straffällig werden? Hilfe erhältst du bei Forio und bei den UPK Basel.

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(AFP/DPA/bho)

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