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Sofi Oksanen: «Putin errichtet sich sein eigenes Denkmal. Er baut seine zukünftigen Monumente»

Die Bedrohung der Ukraine durch Russland hat sich lange angebahnt, schreibt die Schriftstellerin Sofi Oksanen.

Sofi Oksanen 3 min
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«Die Glorifizierung der Vergangenheit ist ein Grund, warum Russland die Ukraine nicht gehen lassen will»: Russische Soldaten an einer Parade in St. Petersburg.

«Die Glorifizierung der Vergangenheit ist ein Grund, warum Russland die Ukraine nicht gehen lassen will»: Russische Soldaten an einer Parade in St. Petersburg.

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Das Gespräch der «NZZ am Sonntag» mit Sofi Oksanen fand im Dezember 2021 statt. In der Zwischenzeit hat Russland den Druck auf die Ukraine nochmals erhöht. In einer E-Mail auf die aktuelle Lage angesprochen, reagierte Sofi Oksanen umgehend mit folgendem Kommentar:

Ich bin nicht überrascht von der gegenwärtigen Entwicklung. Die Bedrohung der Ostukraine durch russische Truppen hat sich schon seit Langem angebahnt. Wladimir Putin ist kein junger Mann mehr. Er handelt wie ein Herrscher, der ein Vermächtnis hinterlassen will. Er fragt sich: Woran wird man sich erinnern? Was werden Biografen über ihn schreiben?

Es scheint, als ob Forscher, Analysten und Journalisten vergessen haben, dass Putin auch nur ein Mensch ist. Er ist ein sterbliches Wesen, auch für ihn gibt es da keine Ausnahme. Aber sein Erbe und sein Fussabdruck soll künftige Generationen prägen. Deshalb errichtet er sich mit den Mitteln der Machtpolitik nun sein eigenes Denkmal. Putin schreibt gerade seine zukünftige Biografie und baut seine zukünftigen Monumente.

Eine wichtige Grundlage von Putins Denkmal-Projekt bildet die Rehabilitierung von Stalin. In Russland gilt Stalin heute für viele als Held. Das legitimiert für die politischen Führer alle Arten von Gräueltaten (aus unserer Sicht).

Dass die Geschichte des Zweiten Weltkriegs umgeschrieben wird, ist ein zweiter Schritt in diesem Projekt. Jede Kritik an der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs wird zum Schweigen gebracht. Das Kalkül Putins ist es, ein nächster Stalin zu sein, oder sogar als noch mächtiger als Stalin in die Geschichte einzugehen. Ganz bestimmt will Putin kein nächster Gorbatschow sein.

Dieses Denkmal-Projekt ist für Putin nicht verhandelbar. Er wird seine Politik nicht ändern, nur weil wir im Westen sie nicht mögen. Und all die Russinnen und Russen, die mit Krankheiten und Hunger kämpfen, kümmerten schon Stalin nicht. Warum sollten sie Putin kümmern?

In seiner Politik und Propaganda erscheint die Vergangenheit, also die Sowjetunion, als Goldenes Zeitalter. Leider war dieses «Goldene Zeitalter» eine Zeit des Krieges, der Kolonien, des Imperialismus, der Verletzung der Souveränität osteuropäischer Länder. Es gab beispielsweise Massenmorde wie in Sandarmoch in Karelien.

Das Massengrab in Sandarmoch wurde nur dank zivilem Engagement von Memorial-Mitgliedern wiederentdeckt. Russland dagegen verklärt die Vergangenheit. Die Erzählung des Grossen Patriotischen Krieges bildet das Fundament seines Regimes. Er lässt nicht zu, dass an diesem Fundament gerüttelt wird. Deshalb werden die Forscher, welche Ereignisse wie jene in Sandarmoch historisch aufarbeiten wollen, nun daran gehindert.

Die Glorifizierung der Vergangenheit ist neben den natürlichen Ressourcen auch ein Grund, warum Russland die Ukraine nicht gehen lassen will. Am liebsten wäre Putin wohl ein ähnliches Abkommen wie der Hitler-Stalin-Pakt. Trotzdem sollte der Rest der Welt nicht vergessen, dass alle Diktatoren eines Tages fallen. Und dann werden ihre Nachfolger sich anders erinnern als vorgesehen.

Übersetzt von Martina Läubli.

Zur Autorin

Sofi Oksanen
Toni Härkönen

Sofi Oksanen

Oksanen wurde 1977 in Finnland geboren und studierte Dramaturgie an der Theaterakademie in Helsinki. Ihr dritter Roman «Fegefeuer», der eindrücklich von der Besetzung Estlands erzählt, wurde in 40 Sprachen übersetzt. Soeben ist ihr sechster Roman «Hundepark» erschienen. Er handelt von der jüngeren Geschichte der Ukraine und der dortigen Reproduktionsindustrie. Die finnisch-estnische Schriftstellerin lebt in Helsinki.

Zum Porträt von Sofi Oksanen