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Italien erlebt einen zweifelhaften Bauboom

Das Baugewerbe floriert wie seit den goldenen 1960er Jahren nicht mehr. Es kommt vielfach zu Exzessen.

Marc Zollinger 4 min
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In Italien sind keine Baugerüste mehr verfügbar, die Baukosten explodieren. (Rom, 6. Dezember 2021)

In Italien sind keine Baugerüste mehr verfügbar, die Baukosten explodieren. (Rom, 6. Dezember 2021)

Yara Nardi

«Vielleicht wachen wir eines Tages mit einem grossen Kater auf», fasste der «Corriere della Sera» vor kurzem seine Zweifel zusammen. Ob alles auch wirklich so gesund ist, was derzeit auf den italienischen Baustellen abläuft?

In den vergangenen eineinhalb Jahren pumpte der italienische Staat über 13 Milliarden Euro in das Baugewerbe. Weitere 18,5 Milliarden hat das Parlament unlängst freigegeben.

Und 2022 werden auch die zweite und dritte Rate des EU-Aufbaufonds in Italien ankommen. Ein Grossteil der 40 Milliarden fliesst in unterschiedliche Bauvorhaben.

Die Folge ist ein Bauboom, wie er seit den goldenen 1960er-Jahren nicht mehr beobachtet werden konnte. Wie gross die Aktivitäten auf den Baustellen des Landes sind, zeigt allein der Umstand, dass keine Baugerüste mehr zu finden sind. Alles vermietet! Nicht einmal zu kaufen gibt es sie.

Auch der Stellenmarkt ist komplett ausgetrocknet: Gemäss Webuild, dem führenden Bauunternehmen des Landes, fehlen in Italien mindestens 100 000 Fachkräfte.

Die Zweifel, die nun aufgekommen sind, betreffen nicht die staatlichen Unterstützungsleistungen an sich sondern vielmehr die Weise, wie die enormen Geldsummen vergeben werden: Es gibt den Eco Bonus, den Bonus Facciate, den Sisma Bonus und dann gibt es den Superbonus 110.

Dieser soll dazu führen, dass Energie gespart wird. Und da hat das Land grossen Nachholbedarf. Gegen 70% der Wohnbauten befinden sich in der tiefsten Energieklasse G.

Kostenlose Sanierungen

Die Idee für den Superbonus 110 stammt aus der Schublade der populistischen Bewegung Cinque Stelle und wurde 2020 von der Regierung um den damaligen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte per Dekret eingeführt – kurz nach Ausbruch der Pandemie, mitten im Lockdown.

Ohne die dramatischen Ereignisse jener Tage wäre dieser Superlativ wohl kaum realisierbar gewesen. Der Superbonus 110 übertrifft nämlich alles, was staatliche Förderprogramme bis dahin versprochen hatten: Wer sein Haus umweltgerecht sanieren will – zum Beispiel mittels Wärmedämmung der Gebäudehülle, neuen Heizanlagen oder Fotovoltaik-Anlagen –, muss keinen einzigen Cent in die Hand nehmen. Alle Ausgaben übernimmt Mamma Italia, einschliesslich der Kreditzinsen.

Darum auch die Zahl 110: Sie besagt, dass der für die Sanierung notwendige Betrag zu hundert Prozent ausgerichtet wird. Zusätzliche 10 Prozent gehen an das Kreditinstitut, das für unmittelbare Finanzierung des Bauvorhabens aufkommt.

Sofort nach dem Start Mitte 2020 wurden die Behörden mit Anfragen überrannt. Während vieler Monate kam der Superbonus 110 allerdings nicht auf Touren. Der Grund waren die üblichen bürokratischen Leerläufe sowie die eingebauten Hürden, mit denen man Missbrauch verhindern wollte.

Zur Blockade führte vor allem das Gebot, dass die Liegenschaft absolut den Normen zu entsprechen hat. Dazu muss man wissen: In Italien gibt es in fast jeder Liegenschaft irgendwo einen Raum, der ohne Bewilligung erstellt oder hinzugefügt wurde.

Diesen Sommer wurden jedoch die kafkaesken Abläufe vereinfacht, auch jene Klausel wurde gestrichen. Und dann ging es los! Auf einen Schlag verdoppelte sich die Zahl der Baustellen im Land.

Die explodierte Nachfrage führte sofort zu grossen Engpässen: Plötzlich liessen sich keine Baufirmen mehr finden, die den Superbonus 110 umsetzen konnten. Auch für andere Arbeiten war niemand mehr da.

Wer einen Handwerker suchte, brauchte entweder aussergewöhnlich gute Beziehungen oder sehr viel Geduld. Knapp wurden auch die Baumaterialien. Und das führte dazu, dass die wegen der Inflation und anderer Verwicklungen auf den Weltmärkten ohnehin schon überteuerten Preise nochmals stark angestiegen sind.

Panels für die Wärmedämmung kosten heute knapp dreimal so viel wie noch vor wenigen Monaten; für einen hybriden Heizkessel muss man gar sechsmal mehr hinblättern.

Die Preisspirale verteuerte natürlich auch die Projekte. Doch weil es auf der Seite der Auftraggeber kein Interesse gab, die Kosten zu senken – schliesslich bezahlt ja Väterchen Staat –, ging es ungehemmt weiter, wie im Drogenrausch.

Manche Bauunternehmen profitierten davon und schlugen nochmals etwas obendrauf. Die italienischen Medien berichteten fast täglich über skandalöse Vorfälle auf den Baustellen und über völlig überteuerte Projekte.

Vor kurzem sind nun auch die Aufsichtsbehörden aufgewacht. Nach einer Kontrolle der eingegangenen Dokumente wurde festgestellt, dass falsche Rechnungen in der Höhe von 950 000 Euro ausgestellt worden sind. Da wurde also Geld für Arbeiten ausbezahlt, die nie ausgeführt wurden.

Oder es wurden völlig überrissene Rechnungen ausgestellt. Unter den Unternehmen, die solche fiktiven Dokumente produziert haben, war zum Beispiel auch eine Metzgerei.

Viele Betrugsfälle

Das erste Fazit des pandemischen Baubooms: Eine Milliarde Euro der bisher ausbezahlten 13 Milliarden sind betrügerisch verwendet worden. Und für die meisten Arbeiten auf den Baustellen muss man heute überrissene Preise bezahlen.

Angesichts dieser Entwicklung wäre es Ministerpräsident Mario Draghi eigentlich lieber gewesen, wenn der Superbonus 110 nicht verlängert worden wäre.

Die Parteien setzten sich dann aber in der Budgetdebatte vor Weihnachten für eine Weiterführung ein und bewilligten eine weitere Finanzspritze in der Höhe von 18 Milliarden Euro. Der Superbonus 110 ist eben auch enorm populär in der Bevölkerung. Und bald schon, spätestens im Jahre 2023, wird in Italien gewählt.

Mario Draghi

Schade, kann man ihn nicht klonen

Italien ist das Sorgenkind der Euro-Zone. Und im Gegensatz etwa zu Griechenland auch «too big to fail»: Würde das hoch verschuldete Land in eine Finanzkrise geraten, könnte das auch das Ende des Euro bedeuten. Darum sind alle Verantwortungsträger von der Europäischen Zentralbank bis zur EU-Kommission so froh, dass Italien für einmal über eine versierte Regierung verfügt – dank Premierminister Mario Draghi.

Die grosse Frage ist nun aber, ob Draghi demnächst zum Präsidenten gewählt wird und wer dann Regierungschef wird. Das treibt auch die Akteure an den Finanzmärkten um. Die Bank Goldman Sachs etwa schreibt: «Die Wahl von Premierminister Draghi zum Präsidenten würde zwar die Verankerung Italiens und seiner Politik in Europa stärken, doch würde diese Wahl auch Unsicherheiten in Bezug auf die neue Regierung und die Wirksamkeit ihrer Politik auslösen.» Viele sähen Draghi am liebsten in einer Doppelrolle, doch das ist natürlich nicht vorgesehen. (stä.)

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