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Ohne Familie glücklicher: Von Kindern, die froh sind, ins Heim gekommen zu sein

Kinder und Jugendliche, die «ins Heim» müssen, werden von der Gesellschaft in aller Regel bemitleidet und ­beargwöhnt. Doch viele von ihnen sind froh, dass sie ihren Eltern entkommen sind.

Barbara Lukesch (Text) und Joan Minder (Fotos) 15 min
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Gael Plo: «Es war ein Segen für mich, dass ich als Fünfjähriger in ein Heim durfte. Die Hölle hatte ich zu Hause.»

Gael Plo: «Es war ein Segen für mich, dass ich als Fünfjähriger in ein Heim durfte. Die Hölle hatte ich zu Hause.»

Die Kommissarin im Sonntagabend-Krimi droht der Verdächtigen: «Wenn Sie nicht kooperieren, muss Ihre Tochter ins Heim.» Das sitzt, Millionen von Fernsehzuschauern verstehen die Botschaft: Höchststrafe. Da kann diese Institution noch so sehr nach Fürsorge und Wärme klingen. Alle wissen, dass Heimkinder Schreckliches erleiden und nachhaltig Schaden nehmen.

Gael Geoffroy Plo schüttelt vehement den Kopf: «Es war ein Segen für mich, dass ich als Fünfjähriger in ein Heim durfte. Die Hölle hatte ich zu Hause.» Der 21-Jährige wurde an der Elfenbeinküste geboren, als der Bürgerkrieg begann. Im Alter von drei holte ihn sein leiblicher Vater mit seinem fünf Jahre älteren Bruder, den die Kriegserfahrungen sehr viel stärker beeinträchtigten, in die Schweiz. In Basel zog der Mann zusammen mit den beiden Knaben zu seiner Frau und deren drei Kindern.

Gael Plo, ein ausgesucht höflicher junger Mann mit einem ausgeprägten baseldeutschen Dialekt, erzählt, dass sich der Vater fast nie um ihn und seinen Bruder gekümmert habe: «Drei, vier Stunden pro Woche – mehr nicht.» Nach der Arbeit und am Wochenende habe er Fussball gespielt und seine Kollegen getroffen. Die Geburtstage seiner Söhne habe er regelmässig vergessen. Ein Geschenk? Ein kleines Fest? Fehlanzeige. Schnell sei ihm auch die Hand ausgerutscht: Mit Schlägen, immer wieder auch mit einem Ledergurt oder anderen Gegenständen, wollte er die Knaben disziplinieren.

Gael in Basel, um 2005 (Privatfoto).

Gael in Basel, um 2005 (Privatfoto).

Joan Nathanael Minder

«Das war seine Form von Erziehung, und die tat weh.» Doch, und jetzt senkt Gael Plo die Stimme, das sei nicht das Schlimmste gewesen: «Katastrophal für mich war die brutale Gewalt, die mein Bruder – ungebremst von einem Erwachsenen – mir gegenüber anwendete.» Dazu habe er ihn psychisch terrorisiert, indem er ihm zu sprechen verbot: «Ein Wort von mir – und er wurde fuchsteufelswild.» Der kleine Gael war ständig auf der Hut und duckte sich weg. Dafür galt er in der Tagesstätte bald einmal als «anstrengendes Kind». Er sagt: «Ich wehrte mich halt auf meine Art.»

Lilly C. ist auf dem Land aufgewachsen, in Dörfern, wo die soziale Kontrolle gross und die Familie immer noch die Keimzelle einer gesunden Gesellschaft ist. Die 33-Jährige seufzt: «Wenn ich an meine Familie denke, sehe ich eine grosse Baustelle vor mir, auf der Gerüste zusammengekracht sind und Menschen verletzt am Boden liegen.»

Ihr Vater war Landwirt, sehr fleissig und sparsam, die Mutter Hausfrau, eine Tochter, ein Sohn. Schon früh bekam die kleine Lilly die Abneigung ihrer Mutter zu spüren. Sie habe sie mit Adleraugen beobachtet und ihr ständig um die Ohren gehauen, was sie alles falsch mache: «Du sitzt nicht richtig am Tisch, du trinkst nicht gut aus deinem Glas, du gehst zu langsam, zu schnell, zu flatschig, zu federnd. Du bist zu dick, zu dumm, zu blöd. Dich hat niemand gern.»

Lilly C: «Es war überhaupt kein Horror. Das Heim war sehr gut für mich. Ich erlebte eine Zeit frei von Angst, umgeben von Menschen, die mich schätzten.»

Lilly C: «Es war überhaupt kein Horror. Das Heim war sehr gut für mich. Ich erlebte eine Zeit frei von Angst, umgeben von Menschen, die mich schätzten.»

Wenn ihre Mutter ganz schlimm drauf gewesen sei, habe sie sie tagelang in ihrem Zimmer eingesperrt und auf Brot und Wasser gesetzt. Fast noch schlimmer sei aber gewesen, wenn die Mutter ihr angedroht habe, sich umzubringen, weil sie so ein böses Mädchen sei. Denkbar sei allerdings auch, dass sie sie in ein Heim stecke.

Lilly wusste, was das heissen sollte, hatte ihre Mutter ihr doch schon früh von ihrer eigenen Zeit im Heim erzählt und von den Klosterfrauen und Patres, die sie dort körperlich misshandelt hätten. Dass auch sie von ihrer Mutter verprügelt, ja regelrecht gegen die Wand geschleudert worden sei, habe ihr im Vergleich mit der psychischen Gewalt kaum noch etwas ausgemacht: «Die körperlichen Blessuren verheilten, die seelischen Wunden nicht.»

Das «schwierige Kind» Lilly C. (Privatfoto).

Das «schwierige Kind» Lilly C. (Privatfoto).

Joan Nathanael Minder

Hilfe bekam die kleine Lilly keine, weil ihre Mutter all ihre Kontakte zu anderen Menschen systematisch hintertrieb, so dass sie am Schluss völlig isoliert und der Mutter ausgeliefert dastand. Ihr Vater habe sich kommentarlos hinter seine Frau gestellt; ihr Bruder sei wie ein Kronprinz vergöttert worden: «Meine Situation war ausweglos.» Sie sei ein Ausbund an Angst gewesen, eingeschüchtert, total verspannt und habe so starke körperliche Symptome entwickelt wie Ausschläge und Essstörungen, dass sie ins Spital musste. Ihre Grossmutter sei einmal total erschrocken, als sie sie lange nicht mehr gesehen habe: «Mein Gott, was passiert hier mit dem Kind?»

Doch auf dem Land wollte niemand so genau wissen, was bei Familie C. daheim passierte. Für ihre Verwandten wäre es undenkbar gewesen, eine Meldung wegen Kindsgefährdung zu machen und ein so privates Problem damit an die grosse Glocke zu hängen. Auch der Gemeindepräsident des 1800-Seelen-Dorfs habe «so Züügs» nicht in seinem Umfeld haben wollen. Kein Wunder, sei die Gefährdungsmeldung einer Nachbarin, die Lilly C. Jahrzehnte später in ihren Akten fand, nie bearbeitet worden.

Als sich die Situation zuspitzte, lenkte die Mutter schliesslich ein und beantragte eine freiwillige Beistandschaft für ihre Tochter, dieses «schwierige Kind», mit dem sie allein nicht mehr fertigwerde. Lilly fiel auch in der Schule auf, störte den Unterricht, war oft unkonzentriert, und als sie neun Jahre alt war, wurde der Eintritt in ein sozialpädagogisches Schulheim angeordnet.

Damit trat das «Horrorszenario» ein, das ihre Mutter ihr immer wieder in drastischen Worten angedroht hatte. Lilly C. schüttelt lachend den Kopf und verknotet ihren Pferdeschwanz zu einem Dutt: «Es war dann überhaupt kein Horror, im Gegenteil: Das Heim war sehr gut für mich. Ich erlebte eine Zeit frei von Angst, umgeben von vielen Menschen, die mich schätzten und stärkten.» Sie habe es fast nicht glauben können, dass es ihr so gut ging, und habe ihre Umgebung auf die Probe gestellt, indem sie «extra blöd getan» und regelrecht darauf gewartet habe, bestraft zu werden: «Aber nichts geschah. Ich wurde weiterhin freundlich behandelt und merkte, dass ich an diesem Ort wirklich in Sicherheit war und mich frei und entspannt fühlen konnte.»

Hatte sie einmal richtig Mist gebaut, beispielsweise die Schlüssel einer Sozialarbeiterin ins WC geworfen, erkannte sie nach einem klärenden Gespräch ihren Fehler, kassierte ihre Strafe und entschuldigte sich. Bei ihrer Mutter habe sie permanent mit einer Ohrfeige rechnen müssen, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, was sie sich habe zuschulden kommen lassen. Sie macht eine Pause und sagt dann: «Das Heim war eine Erlösung für mich und erlaubte mir erstmals, mich zu entfalten.»

Auch für Gael Plo wurde das Leben viel leichter, als er ins Kinderheim kam, in dem er blieb, bis er zwölf Jahre alt war. Befreit von der Gewalt seines Bruders und der Härte seines Vaters, atmete der Bub auf, genoss es, mit anderen Kindern zu spielen, in den Ferien nach Südfrankreich in ein Lager mit Pool und Disco zu reisen, Kanu zu fahren, in den Winterferien Ski- und Snowboardfahren zu lernen. Das Essen sei fein gewesen, jeden Tag von den hauseigenen Köchen zubereitet. Nach zwei Jahren habe er sogar ein eigenes Zimmer beziehen dürfen und sich noch privilegierter gefühlt. Und – er lacht – am Geburtstag habe jedes Kind ein Geschenk bekommen und das Mittagsmenu bestimmen dürfen.

Dass das Heim gross war und die Gruppen mit bis zu zwölfKindern wenig individuelle Betreuung erlaubten, empfand Gael Plo zwar als Mangel. Aber der Bub hatte längst seine eigenen Strategien entwickelt, um mit seiner Trauer und seinem Schmerz umzugehen, die ihn immer wieder einholten: «Ich zog mich in mein Zimmer zurück, heulte für mich allein oder klemmte die Tränen mit der Zeit ganz ab.» Damit sei er zurechtgekommen. Doch wenn er an den Wochenenden zu seinem Vater und seinem Bruder musste, habe er fürchterlich gelitten und nur eins gewollt: «Zurück ins Heim.»

Dort stand das Glück für einmal ganz auf seiner Seite. Als er acht Jahre alt war, nahm ein neuer Sozialarbeiter seine Tätigkeit auf, mit dem er es «supergut» hatte. Er sei auf ihn eingegangen wie kein anderer und habe sehr schnell gespürt, dass er daheim Gewalt erleidet. Ganz wichtig für ihn sei auch gewesen, erzählt Gael Plo mit spürbarer Freude, dass er «hässig» sein durfte, ohne dafür über Gebühr bestraft zu werden: «Er war der einzige der Betreuer, der mir ein solches Verhalten zugestand, weil er merkte, dass ein Kind mit meinem Hintergrund nicht ständig lächeln und nett sein kann.»

Wenn er ausrastete, stellte sich der Betreuer zwischen Gael und das Kind, das er attackieren wollte, lenkte seine Aggressionen auf sich und schaffte es so, ihn zu beruhigen: «Das war eine ganz neue Erfahrung für mich, die mir weiterhalf.» Mit der Zeit habe er gelernt, auf Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung zu verzichten. Der Betreuer förderte ihn auch auf anderen Ebenen: Er ermöglichte es Gael, mit einem Gleichaltrigen eine freundschaftliche Beziehung zu beginnen, brachte den beiden das Schach- und Mühlespielen bei, musizierte für sie auf der Gitarre und animierte sie, sich mithilfe von Youtube-Videos alle möglichen Tänze von Breakdance bis Ausdruckstanz beizubringen.

Einen richtigen Coup landete Gael mit einem rund zwanzigseitigen Drehbuch für einen Film, das er von A bis Z selber schrieb. Als sein Betreuer davon erfuhr, entschied er, dass die Heimkinder im Sommerlager Gaels Vorlage verfilmen würden. Er nahm eine Kamera mit, verteilte die Rollen, und alle waren mit Feuereifer bei der Sache. Am Ende der Ferien konnten sie sich tatsächlich «Die Kraft der magischen Bändchen» anschauen, einen Heldenfilm, in dem Kinder im Wald bunte Bändchen finden, die ihnen Superkräfte verleihen und erlauben, einen Bösewicht zu besiegen. Der junge Mann strahlt: «Ich war so stolz, dass ich eine solche Anerkennung für etwas bekam, was ich ganz allein hingekriegt hatte.»

Lilly C. und Gael Plo sind alles andere als naiv. Bei aller Dankbarkeit haben sie auch einiges an den Heimen auszusetzen. Viele seien zu gross, es mangele meistens aus Spargründen an Personal, was es den Buben und Mädchen, aber auch den jungen Erwachsenen schwer mache, tragfähige Beziehungen aufzubauen. Dazu habe die Debatte um den sexuellen Missbrauch in Heimen, die dringend nötig und sehr wertvoll sei, leider auch dazu geführt, dass viele Sozialarbeitende auf geradezu klinische Distanz zu ihren Schützlingen gingen. Lilly C. sagt: «Man will auf keinen Fall zu viel Nähe zulassen und hält die Kinder damit emotional sehr kurz.» Das sei frustrierend und hinterlasse bei den Betroffenen schnell ein Gefühl von Einsamkeit: «Nirgends gehöre ich dazu.» Dann brauche es nur noch den Hinweis der Betreuerin, dass sie nicht das Mami von Lilly oder Toby sei, das Mami lebe doch noch und wohne bloss an einem anderen Ort. In einem solchen Moment fühle sich ein Kind zurückgestossen ins Niemandsland, «irgendwo zwischen Stuhl und Bank», wie es Lilly C. umschreibt.

Toby Riedmüller ist 26 Jahre alt, stammt ursprünglich aus Konstanz am Bodensee und hat die längste Zeit seines Lebens mit seinem Bruder bei zwei Tanten in einer Art Pflegefamilie verbracht. Seine Mutter war schwere Alkoholikerin und galt in der Nachbarschaft als verwahrlost – das legen Briefe nahe, die Toby Riedmüller in seinen Akten gefunden hat. Eine Zeitlang wohnte sie in einem Viertel, das Einheimische «das Tal der fliegenden Messer» nannten.

Toby Riedmüller: «Es macht mich kaputt, wenn mir die Gesellschaft einen Stempel aufdrückt: ‹Armer Toby, so allein ohne Mami aufwachsen.›»

Toby Riedmüller: «Es macht mich kaputt, wenn mir die Gesellschaft einen Stempel aufdrückt: ‹Armer Toby, so allein ohne Mami aufwachsen.›»

Joan Nathanael Minder

Der extrem schüchterne Knabe, der zu weinen begann, wenn man ihn ansprach, wurde als Fünfjähriger fremdplatziert und empfand erstmals in seinem Leben so etwas wie Ruhe und Entspannung. Die ersten zehn Jahre seien ihm in bester Erinnerung: «Ich fühlte mich behütet, wertgeschätzt und sehr glücklich.» Als Bruch habe er empfunden, als die beiden Tanten ihn zum ersten Mal durchaus liebevoll darauf hinwiesen, dass sie nicht seine Mütter seien: «Von da an war so etwas wie Panik in meinem Leben: Wann kommt das Amt und schickt mich zurück?»

Das zufriedene Pflegekind Toby (Privatfoto).

Das zufriedene Pflegekind Toby (Privatfoto).

Joan Nathanael Minder

Toby durfte so lange bleiben, wie er wollte. Lilly C. und Gael Plo aber mussten tatsächlich zurück. Beide litten Höllenqualen. Lilly C. war knapp zwölf Jahre alt, als sich die Sozialbehörden mit ihren Eltern und ihr an einen Tisch setzten und befanden, sie habe sich so gut entwickelt, dass sie «rückplatziert» werden könne. Sie sei zwar vor Angst fast gestorben und habe befürchtet, bei ihrer Rückkehr werde alles wie vorher sein: «Doch in Gegenwart meiner Mutter und meines Vaters habe ich natürlich nicht gewagt, so etwas zu äussern.»

Ihre Angst sei mehr als berechtigt gewesen, erzählte Lilly C., ihre Mutter habe sie wochenlang ignoriert oder «mega böse» behandelt: «Ich spürte, wie ich seelisch immer mehr verkümmerte, und fürchtete, eines Tages wie eine Kerze zu verlöschen.» Als ihre Mutter ihr auf die Frage, ob sie sie überhaupt gernhabe, geantwortet habe: «Nein, dich kann kein Mensch gernhaben, und ich bereue, dass ich dich überhaupt auf die Welt gestellt habe», fasste sie den Entschluss zu gehen.

Weil die Mutter sie an diesem Abend wieder einmal einsperrte, sprang sie aus dem zweiten Stock rund sechs Meter in die Tiefe und landete ohne jede Schramme auf dem Betonboden. Den Kontakt zu ihrer Familie brach sie ab. Der Aufenthalt in einem weiteren Heim wurde zu ihrem Rettungsanker.

Gael Plo erging es ähnlich. Als er das Kinderheim altersbedingt mit zwölf Jahren verlassen musste, pochte sein Vater darauf, dass er zu ihm zurückkomme: «Dabei wäre ich wahnsinnig gern in ein anderes Heim umgezogen.» Nach zwei Jahren Terror, einer Zeit, in der er auch alle Fortschritte in der Schule wieder einbüsste, haute der Minderjährige ab und fand nach Zwischenstationen bei privaten Pflegepersonen Aufnahme im Wohnexternat eines Basler Heims. Einmal mehr hatte er einen guten Draht zu den Sozialarbeitern, die für ihn zuständig waren, und bekam «unglaublich wertvolle Unterstützung».

Lilly C., Gael Plo und Toby Riedmüller haben ihren Weg gemacht: Die junge Frau hat einen KV-Abschluss und eine Ausbildung im Sozialbereich gemacht. Sie arbeitet gemeinsam mit Gael und anderen im Verein Careleaver mit, der die Interessen ehemaliger, aber auch jetziger Heim- und Pflegefamilienkinder wahrnimmt. Sie wohnt mit ihrem Partner auf dem Land, nicht weit entfernt von jenem Heim, in dem sie als kleines Mädchen einige Jahre unterkam. Sie empfinde es als wohltuend, ja regelrecht stärkend, dieses Haus in ihrer Nähe zu haben.

Bei Gael Plo waren es nicht zuletzt die Sozialarbeiter, mit denen er im Wohnexternat zu tun hatte, die ihn motivierten, die Schule und seine spätere Ausbildung ernst zu nehmen. Er sei viel zu schlau, als dass er dieses Potenzial brachliegen lassen dürfe, sagten sie. «Meine Betreuer rannten offene Türen ein, weil ich nichts lieber wollte als eine gute Ausbildung, um das familiäre Milieu von Frust und Gewalt hinter mir zu lassen.» Er habe zwar als Knabe und Jugendlicher seine Hausaufgaben vernachlässigt, aber in seine Lehre als Elektriker habe er sich reingekniet und sei rings um die Abschlussprüfung vor lauter Stress fast in ein Burnout geraten. Doch Gael Plo wollte mehr: zuerst die Berufsmatura und dann ein Studium in Wirtschaftspolitik. Seine dunkelbraunen Augen blitzen: Ende September starte er in Olten an der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Toby Riedmüller brauchte ein bisschen mehr Zeit, um seinen Weg zu finden. Fast etwas beschämt räumt der 26-Jährige ein, dass er jahrelang unter schweren Depressionen gelitten und eine mehrjährige Psychotherapie gebraucht habe. Die Frage, wer er denn überhaupt sei, habe ihn lange Zeit umgetrieben. So habe er auch viel darüber nachgedacht, ob es für ihn nicht einfacher gewesen wäre, wenn er im Heim aufgewachsen wäre statt bei seinen Tanten, denen er zwar unendlich dankbar sei, aber in deren Gegenwart er auch immer wieder massive Identitätskrisen hatte: «Ich wusste nicht einmal mehr, wie ich meine Rolle benennen sollte: Sohn passte nicht, Neffe ging auch nicht mehr. Es war sehr verwirrend für mich.» Heute hat er auf jeden Fall seine Berufsrolle gefunden: Er absolviert am Zürcher Kinderspital eine Ausbildung zum Pflegefachmann und kann sich gut vorstellen, einmal im Kinder- und Jugendschutz tätig zu sein.

Die Zuversicht und der Lebensmut der drei jungen Menschen sind gross. Was sie mitunter bremst, ist die Reaktion von Leuten, die erfahren, dass sie ehemalige Heim- oder Pflegekinder sind. Lilly C. löst ihren Haarknoten wieder auf und zieht ihren Pferdeschwanz in die Länge. Mit unüberhörbarem Verdruss in der Stimme sagt sie: «Es ist das alte Lied: ‹Oh, du Arme! Wie schrecklich, dass du von deinen Eltern wegmusstest an einen fremden Ort!›» Sie erwidere jeweils, dass sie glücklich sei, im Heim aufgewachsen zu sein. Und eine Arme sei sie bloss, weil sie so furchtbare Eltern gehabt habe, in deren Gegenwart sie sich fremd fühlte. Sie sei sich allerdings nicht sicher, ob alle Leute es schätzten, wenn sie ihre Eltern so hart kritisiere: «Das ist nach wie vor tabu.»

Toby Riedmüller pflichtet ihr bei: «Es macht mich kaputt, wenn mir die Gesellschaft, ohne mich zu kennen, einen Stempel aufdrückt: ‹Armer Toby, so allein ohne Mami aufwachsen!›, oder dann: ‹Na, Toby, was hast du denn angestellt?›» Er habe die Fremdplatzierung als Chance erlebt, wachsen und gedeihen zu dürfen, was ihm bei seiner Mutter verunmöglicht worden wäre. Die x-fach wiederholten Zweifel und Infragestellungen dieses Erziehungsmodells hingegen verunsicherten und belasteten ihn.

Bei Gael Plo waren es einige Lehrer und ein Lehrmeister, die ihm als Heimkind mit Skepsis und Vorurteilen begegneten. Sie hätten ihm wenig bis gar nichts zugetraut. Sogar als er den Fünfer-Notenschnitt schaffte, der zum Übertritt in den höherklassigen Schultyp berechtigt hätte, stoppte ihn sein Lehrer mit den Worten: «Das ist zu anspruchsvoll für dich.» Sein Lehrmeister piesakte ihn ständig mit der Drohung, er werde das Lehrjahr wiederholen müssen, obwohl er ausgezeichnete Noten hatte. Zuletzt verunsicherte er ihn mit der Behauptung, jemand, der so schwach sei wie er, versage ganz sicher bei der Abschlussprüfung. Doch Gael kam beim ersten Mal durch.

Er grinst und sagt, kürzlich habe er einen ehemaligen Lehrer auf der Strasse getroffen und ihm erzählt, dass er gerade die Berufsmatura bestanden habe. Der Mann habe ihm überschwänglich gratuliert und betont, wie stolz er auf ihn sei. Dann habe er sich plötzlich bei ihm entschuldigt. Es tue ihm leid, dass er und seine Kollegen damals nicht so gut zu ihm geschaut hätten, wie es nötig gewesen wäre. Der junge Mann war etwas erstaunt, aber auch erfreut, auf einmal so viel Wertschätzung zu erfahren.

Sergio Devecchi, 73, wuchs unter schlimmen und prägenden Bedingungen in verschiedenen kirchlichen Heimen auf. Die ersten siebzehn Lebensjahre verbrachte der unehelich geborene Bub durchgehend in Institutionen, die ihm die Geschichte seiner Herkunft konsequent vorenthielten. Dann liess er sich zum Sozialpädagogen ausbilden und leitete bis zu seiner Pensionierung selber verschiedene Heime. Seine Geschichte hat er in seiner Biografie «Heimweh – Vom Heimbub zum Heimleiter» aufgeschrieben.

Sergio Devecchi nimmt sich kurz vor seinen Ferien in der Toskana noch Zeit für ein Gespräch, das ihm offensichtlich wichtig ist. Wir treffen ihn in der Altstadt von Solothurn, wo er auch wohnt. Devecchi kennt die Schweizer Heimlandschaft so gut wie kaum jemand sonst. So zählt es besonders, wenn er konstatiert, dass die Heimerziehung in den letzten Jahrzehnten einen gewaltigen fachlichen Sprung nach vorn gemacht habe, den die Gesellschaft aber überhaupt nicht wahrgenommen habe. Die Leute seien bei den alten Bildern stehengeblieben: «Heime sind schlecht. Dort werden Kinder misshandelt und missbraucht. Wer blöd tut, kommt ins Heim. Heimkinder sind böse.»

Dass sich vieles zum Besseren verändert habe, macht Devecchi auch an der zunehmenden Professionalisierung der Einrichtungen fest. Tatsächlich: Bund und Kantone haben Richtlinien für die Führung eines Heims erlassen. Sie überprüfen laufend das Konzept, den Personalschlüssel und legen die Zimmergrösse fest. Dazu, so Devecchi, seien Therapie- und Bildungsangebote entwickelt worden, die den Jugendlichen echte Chancen böten: «Wer heute in ein Heim kommt, landet nicht mehr in einer Sackgasse. Im Gegenteil. Ich habe viele junge Menschen betreut, die beachtliche berufliche Wege eingeschlagen haben.»

Um so erstaunlicher, dass die Gesellschaft Heime nach wie vor so negativ beurteilt und ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern wie Lilly oder Toby das Leben unnötig schwer macht. Devecchi nickt: «Ich glaube einfach, dass die Leute einen Ort brauchen, an den sie das Böse delegieren können.» Man könne Aufklärung betreiben oder von der «stationären Kinder- und Jugendhilfe» statt von «Heimen» sprechen und so versuchen, die Vorurteile aus der Welt zu schaffen. Aber sie schienen wirklich tief verwurzelt zu sein.

Gerade kürzlich habe er in seiner Familie eine solche Erfahrung gemacht: «Der sechsjährige Enkel meiner Partnerin hörte zum ersten Mal, dass auch ich in Heimen aufgewachsen bin. Prompt fragte er mich, ob ich denn auch so ein Böser gewesen sei, dass man mich ins Heim stecken musste.» Er sei erstaunt gewesen, wie reflexartig ein so kleiner Bub solche Phantasien entwickle und damit ja auch unbewusst die traditionelle Familie glorifiziere: «Nur wer bei Mutter und Vater aufwächst, ist auf dem richtigen Weg.»

Dabei explodierten die Scheidungszahlen, und wir wüssten ja inzwischen, wie viel Gewalt in Familien herrsche. Wenn ein Kind aus solchen Verhältnissen ins Heim komme, sei die Chance, von Gewalt verschont zu werden, deutlich grösser: «Denn wenn ein Betreuer ein Kind schlägt, ist das transparent, und er hat ein Problem. Wenn hingegen der Vater oder die Mutter das Kind verprügelt, sieht das in aller Regel niemand, und das Kind bleibt häufig allein mit seiner Not.»

Barbara Lukesch war bei der Recherche beeindruckt davon, wie optimistisch die ehemaligen Heimkinder ihre Geschichte ­schilderten, aber auch wie zählebig Vorurteile sein können.