Pandemie
Mit Omikron wird Chinas grösste Corona-Angst wahr – ist jetzt die staatliche Pandemiepolitik infrage gestellt?

Omikron ist da: Erstmals breitet sich die neue Virusvariante in China aus. Sie könnte die radikale Null-Covid-Strategie des Landes kippen.

Fabian Kretschmer
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Wie lange hält die Null-Covid-Strategie? Menschen in Tianjin stehen Schlange für den obligatorischen Covid-Test.

Wie lange hält die Null-Covid-Strategie? Menschen in Tianjin stehen Schlange für den obligatorischen Covid-Test.

Keystone

Die Hiobsbotschaft kam mit Ansage – und traf die meisten Chinesen dennoch wie ein Schock. Am Samstag testete ein Paar aus der Küstenstadt Tianjin positiv auf das Virus, am Sonntagmorgen schliesslich berichtete das Staatsfernsehen die zuvor vorausgegangenen Spekulationen: Es handelt sich um die ersten lokalen Omikron-Fälle des Landes. Mindestens 20 Infektionen sollen bereits auf den Cluster zurückzuführen sein.

Für China ist dies das denkbar schlimmste Szenario. International führende Virologen haben bereits vor Tagen davor gewarnt, dass die hochinfektiöse Virusmutation die Karten neu mischen wird. Unlängst hat auch der deutsche Virologe Christian Drosten China als seine «grösste Sorge» bezeichnet. Denn wie Drosten glauben die meisten internationalen Wissenschafter, dass angesichts der Mutation eine Null-Covid-Politik zum Scheitern verurteilt ist. Trotz strikter Quarantäne- und Lockdown-Regimes liesse sich die Verbreitung des Virus nicht mehr aufhalten.

Erschwerend kommt hinzu, dass die in China zugelassenen Vakzine von Sinopharm und Sinovac nach ersten Daten keinen ausreichenden Schutz gegen Omikron liefern. Und aufgrund der extrem niedrigen Infektionszahlen seit Ausbruch der Pandemie ist auch die «natürliche» Immunität im Reich der Mitte weitaus geringer als in anderen Staaten. Nur etwas mehr als 100000 Menschen haben sich innerhalb der Bevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen mit dem Virus infiziert.

Die bisher erfolgreiche Strategie stösst an Grenzen

Schon in den letzten Tagen hatte sich angedeutet, dass China mit seiner radikalen, aber bisher erfolgreichen Null Covid-Strategie an seine Grenzen gelangt. Seit zweieinhalb Wochen ist die nordwestchinesische Metropole Xian vollständig abgeriegelt, die 13 Millionen Einwohner dürfen nur mehr zum verpflichtenden Covid-Test auf die Strasse. Dabei waren die Zahlen im internationalen Vergleich zu keinem Zeitpunkt besorgniserregend: Seit Beginn des Ausbruchs in Xian haben die Gesundheitsbehörden weniger als 2000 Infektionen registriert. Unter ihnen ist bislang kein einziger an dem Virus verstorben.

Dennoch reagierten die Behörden drastisch. Und die Kollateralschäden der chinesischen Lockdown-Politik haben sich selten so deutlich offenbart. Am Neujahrstag etwa verweigerten die Mitarbeiter des Gaoxin-Spitals im Südwesten der Stadt einer hochschwangeren Frau den Einlass, da ihr negativer Covid-Test um vier Stunden abgelaufen war. Ehe das Resultat des neuen Virustests vorlag, erlitt die Chinesin eine Fehlgeburt.

Weite Teile der Welt schauen mit Befremden auf den radikalen Viruskampf der Volksrepublik, die nach wie vor ganze Städte wegen einer Handvoll Infektionen abriegelt und zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie seine Grenzen weiterhin geschlossen hält. Doch wie eine Bestandsaufnahme vor Ort zeigt, ist Chinas Sonderweg weitaus rationaler und moralisch komplexer, als er in der medialen Berichterstattung oftmals porträtiert wird. Sie beruht auf einem Gesellschaftsvertrag, der im konfuzianisch geprägten China grundsätzlich starken Rückhalt in der Bevölkerung geniesst: Die rigiden Opfer einer Minderheit sichern das Wohlergehen des Kollektivs.

Radikale Strategie hat viele Todesfälle verhindert

Bislang ging dieser Deals erstaunlich gut auf: Tatsächlich hat Chinas radikale Strategie etliche Virustote verhindert. Laut offiziellen Zahlen sind bislang weniger als 6000 Menschen an dem Virus gestorben. Selbst wenn die Dunkelziffer höher liegt, ist sie angesichts einer Gesamtbevölkerung von 1,4 Milliarden noch immer verschwindend gering. Für die Mehrheit der Chinesen spielt das Infektionsrisiko seit über anderthalb Jahren keine Rolle mehr im Alltag, und dank der weitgehenden Normalität in den meisten Landesteilen konnte sich auch die Wirtschaft schneller erholen als in vielen anderen Ländern.

Ob die aktuellen Omikron-Infektionen in Tianjin eingedämmt werden können oder tatsächlich einen Wendepunkt im chinesischen Kampf gegen das Virus darstellen, werden die nächsten Wochen zeigen. «Gott sei Dank sind die Fälle rund 30 Kilometer von meinem Zuhause entfernt», sagt ein Bewohner aus Tianjin: «Aber trotzdem stocke ich besser meine Essensvorräte auf. Der Lockdown ist mittlerweile weitaus furchterregender als das Virus selbst».