Schweiz holt IS-Kinder zurück - «IS-Rückkehrende beginnen daheim oft, den IS zu verteidigen»

Publiziert

Schweiz holt IS-Kinder zurück«IS-Rückkehrende beginnen daheim oft, den IS zu verteidigen»

Ihre Mutter verschleppte Malika (15) und Nalia (9) von Genf nach Syrien. Unter der Herrschaft des «Islamischen Staates» waren sie Gewalt und einer mörderischen Ideologie ausgesetzt. Kann man die Kinder davon befreien? Antworten eines Deradikalisierungs-Experten.

Darum gehts

Gut fünf Jahre harrten sie in Syrien aus, bevor der Bund die Mädchen am Montagvormittag in die Schweiz zurückholte. Fast drei Jahre lang lebten Malika (15) und ihre Halbschwester Nalia (9) unter der Herrschaft der Terrormiliz «Islamischer Staat», rund drei weitere Jahre harrten sie im Internierungscamp der kurdischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens aus.

Was die Mädchen in dieser Zeit erlebten und mit ansehen mussten, ist aus der Perspektive der sicheren Schweiz unvorstellbar. Allein die Flucht aus der letzten IS-Hochburg Baghuz im Frühjahr 2019 muss für sie voller Grauen gewesen sein.

Damals verschanzten sich die Terroristen mit Hunderten Frauen und Kindern bei eisiger Kälte während Wochen in Gräben und Zelten. Der Hunger war gross: Gras und Dreck wurden zusammengeknetet und für zwölf Dollar als «Brot» verkauft. Zum Dauerbeschuss durch die Kampfjets der Anti-IS-Koalition kamen die Kämpfe am Boden. Malika wurde so durch einen Granatsplitter am Bein verletzt. Zu solch äusseren Wundern kommen innere hinzu. Und nicht nur das.

«Wie stark wurde die Ideologie Teil der Persönlichkeit?»

Kinder, die aus dem IS-Gebiet zurückkehren, seien Gewalt ausgesetzt gewesen, hätten sich in gewissem Umfang auf die extremistische Ideologie des IS eingelassen oder seien dieser ausgesetzt gewesen, schreibt das «Radicalisation Awareness Network» (RAN) der Europäischen Kommission.

Entsprechend werden junge Rückkehrende gleich nach ihrer Ankunft in verschiedene Programme mit SozialarbeiterInnen, PsychologInnen und Deradikalisierungs-ExpertInnen eingebunden. Gerade letztere würden für das notwendige Wissen über die Religion und die extremistische Ideologie der betreffenden Gruppierung und ihre Vertreter mitbringen, sagt Moussa Al-Hassan Diaw von der österreichisch-deutschen Organisation Derad.

Das Ziel der pädagogischen Arbeit sei, die radikale Ideologie zu dekonstruieren. «Dabei muss man sehr behutsam vorgehen: Wie tickt diese Person, wie sieht ihre Weltanschauung aus? Wir müssen herausfinden, wie stark die Ideologie Teil der Persönlichkeit geworden ist. Dazu sind viele Hintergrundrecherchen und Gespräche nötig», sagt Al-Hassan Diaw.

Deradikalisierung: bei Teenagern schwieriger als bei Kindern

«Die Ideologie, unter der die Kinder von Jihadreisenden aufgewachsen sind und die sie während Jahren gelebt haben, steht im Widerspruch zum demokratischen Rechtsstaat, in den sie zurückkehren», führt der Radikalisierungsexperte aus. Komme dazu, dass unter den Insassinnen der Internierungslagern Nordsyriens weiter «eine ideologisch-islamistische Kultur» vorherrsche.

Hassan spricht damit an, was viele hierzulande möglicherweise unterschätzen: In den Camps herrscht der IS mit seiner Ideologie im Mikrokosmos weiter: Viele Frauen kleiden sich weiter nach den Regeln des IS und setzen durch, dass seine Gesetze eingehalten werden. Frauen, die sich vom IS abwenden, werden angegriffen, es kommt immer wieder zu Mord und Totschlag.

«Ausser diesem radikalisierten Alltag kennen die Kinder und Teenager kaum anderes», so Al-Hassan Diaw. «Dabei ist eine Deradikalisierung bei Teenagern schwieriger als bei Kindern. Denn sie befinden sich im Prozess der Identitätssuche und halten sich an Gemeinsamkeiten mit dem Umfeld fest. Sie muss man, je nach Entwicklungsstufe, intellektuell überzeugen können.»

«Dekonstruktion der Opferhaltung und Feindbilder»

Für den Deradikalisierungsprozess dürfte es aber eine grosse Hilfe sein, dass Malika und Nalia zu ihren nicht radikalen Vätern in die Schweiz zurückkehren können, meint Hassan.

Der Radikalisierungsexperte gibt aber auch zu bedenken: «Durch die Trennung von der Mutter könnte die emotionale Verbindung zu ihr so stark verfestigt werden, dass die Kinder keinen Abstand zur Vergangenheit bekommen können.» Diese Gefahr scheint im Fall Genfer Mädchen allerdings weniger akut: Zumindest soll der häufige Kontakt zu ihren Vätern den Wunsch der Mädchen nach einer Rückkehr in die Schweiz entscheidend gestärkt haben.

Zurück in der Heimat, erweise sich der Zugang zum Internet oft als problematisch. «Hier finden sie die radikale Ideologie wieder und können sich austauschen. In unserer Erfahrung neigen viele Rückkehrende zu einer Konter-Erzählung, wenn man den IS kritisiert: Sie beginnen, den «Islamischen Staat» zu verteidigen. Im Deradikalisierungs-Prozess geht es letztlich auch um die Dekonstruktion der Opferhaltung und Feindbilder, die gerade in radikal-ideologisierten Kreisen vorherrscht.»

Gefahr einer Glorifizierung des alten Lebens

Man würde meinen, dass allein die praktischen Annehmlichkeiten im Schweizer Alltag eine Abkehr vom mühevollen, gefährlichen Leben unter dem IS vereinfachen. Das kann sein, muss aber nicht. «Je ideologisierter jemand ist, desto eher neigt diese Person dazu, das zurückgelassene Leben zu glorifizieren und die neue Umwelt zu verteufeln, in ihr überall die Sünde und den Unglauben (Kufr) zu sehen», sagt Al-Hassan Diaw.

Erfahrungsgemäss hätten jene Kinder und Teenager, die solide Bedingungen vorfänden, eine besserer Chance, sich im Heimatland zu resozialisieren. Andere, die in ein weniger stabiles Umfeld zurückkehren, seien dagegen versucht, wieder den Anschluss an islamistische Kreise zu suchen, da diese ihnen Sicherheit geben.

Al-Hassan Diaw kennt Fälle, wo Mädchen auch nach ihrer Rückkehr hochgradig radikalisiert blieben. «Sie sind weiterhin vollverschleiert, tragen Handschuhe und suchen Anschluss bei denen, die ähnlich ticken. Sie leben weiterhin nach dem Frauenbild des «Islamischen Staates». Auch hier versuchen wir zu zeigen, dass ihre Vorstellungen nicht alternativlos sind. Muslimische Frauen verlassen ihr Haus, arbeiten, studieren, können mit oder ohne Schleier umherlaufen.»

«Sie bekämpfen ihre Umwelt nicht mehr»

Andere Mädchen hätten sich nach einiger Zeit von der Ideologie gelöst – «je nachdem, welche Rolle die Religion in ihrem Leben spielt», so Al-Hassan Diaw. «Nimmt sie weiterhin viel Platz ein, versuchen wir zu vermitteln, dass das Leben mit ihrer Religion kein Widerspruch zum Leben in der Schweiz oder Österreich darstellt. Doch bei allem Vermittlungsversuchen in Deradikalisierungs-Programmen: Man muss langsam und behutsam vorgehen, ansonsten weckt sich schnell Widerstand.»

In Österreich zumindest kann sich die Erfolgsquote solcher Programme sehen lassen. Studien zufolge liegt die Rückfallquote bei Jihadreisenden sowie AnhängerInnen terroristischer Vereinigungen bei gerade einmal fünf Prozent. «Das heisst nicht, dass alle Personen kein radikales Gedankengut mehr mit sich tragen», sagt der Radikalisierungsexperte. «Aber sie haben sich mit ihrer Umwelt versöhnt und arrangiert und bekämpfen sie nicht mehr. Damit ist viel erreicht.»

* Namen der Redaktion bekannt und abgeändert

Zur Organisation «Derad»

My 20 Minuten

Deine Meinung

82 Kommentare