Volle Intensivstationen – Mediziner fordern Vorrang für Geimpfte bei Triage

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Volle IntensivstationenMediziner fordern Vorrang für Geimpfte bei Triage

Wegen der steigenden Auslastung der Intensivstationen fordern Mediziner, dass Geimpfte bei einer allfälligen Triage bevorzugt werden. Eine Ethikerin spricht von einer «roten Linie», die dann überschritten werde.

Darum gehts

Auf Schweizer Intensivstationen verschärft sich die Lage. Immer mehr Covid-Patienten und -Patientinnen werden eingeliefert. Fachpersonen rechnen mit dem Schlimmsten: «Ohne wirksame Massnahmen werden Ärztinnen und Ärzte bald Triage-Entscheidungen fällen müssen», schreibt etwa der Pflegeverband SBK in einer Mitteilung.

In der Hirslanden-Klinik in Aarau mussten bereits Triagen vorgenommen werden, wie der «Sonntagsblick» berichtete. Auf Anfrage sagt Kommunikationsleiter Philipp Lenz, dass man damit rechne, dass sich die Situation weiter verschärfe. «Dies kann zu Triage-Entscheidungen führen, so dass beispielsweise Patienten erst verzögert auf die Intensivstation kommen können - mit entsprechenden Risiken für die Gesundheit.»

Deshalb fordern Mediziner wie Epidemiologe Marcel Salathé nun, dass Ungeimpfte bei der Vergabe von Intensivbetten benachteiligt werden. Ein Kommentar in der «NZZ» (Bezahlartikel) trug den Titel «Impfverweigerer mögen ignorante Egoisten sein – doch auf der IPS müssen sie gleiche Rechte haben wie das kranke Mädchen mit dem Herzfehler». Salathé kommentierte dies schlicht mit «Nein.»

Am Sonntag legte Salathé auf Twitter nach und widersprach einem Tweet des Basler Kantonsarztes Thomas Steffen. Dieser hatte geschrieben, Corona sei wie andere Dinge auch, etwa rauchen, Alkohol oder Risikosport. «Corona ist ganz bestimmt nicht wie Rauchen, nicht wie Risikosport, und nicht wie Alkohol», schrieb Salathé. «Corona ist ansteckend. Ansteckungen führen zu mehr Ansteckungen, und so zu exponentiellem Wachstum.»

«Ungeimpfte nehmen Platz weg»

Auch Infektiologe Andreas Widmer sagt: «Im Falle einer Triage auf den Intensivstationen sollte die Berücksichtigung des Impfstatus in die medizin-ethischen Richtlinien der ‹Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW)› aufgenommen werden.»

Wenn wie jetzt der allergrösste Teil der Patienten und Patientinnen auf Intensivstationen ungeimpft sei, müsse man Anpassungen der Triagerichtlinien diskutieren, so Widmer weiter: «Es kann nicht sein, dass Ungeimpfte den Geimpften den Platz auf der IPS wegnehmen und so deren Überlebenschance mindern.» Eine Impfung diene nicht nur dem Selbstschutz, sondern helfe auch, andere zu schützen.

So läuft die Triage im Spital ab

Auch bei den Ungeimpften selber wird die Frage, ob sie überhaupt behandelt werden wollen, diskutiert. Gemäss einer Umfrage von «nau.ch» kommt es durchaus vor, dass Ungeimpfte im Falle einer Erkrankung gar nicht erst in den Spital wollen. Trotzdem zeigen Berichte aus den Intensivstationen klar: Der allergrösste Teil der IPS-Patienten mit Covid ist ungeimpft.

Bei der SAMW will man von angepassten Triage-Kriterien derweil nichts wissen. Man könne den Unmut des erschöpften Gesundheitspersonals zwar sehr gut verstehen, sagt Sibylle Ackermann, Leiterin Ressort Ethik: «Auch wir wehren uns aber klar dagegen, den Impfstatus als Triagekriterium zu verwenden.» Triagiert werden dürfe nur nach medizinischen Kriterien (siehe Box unten).

Da sei es aber möglich, dass der Impfstatus indirekt hineinspiele: Gemäss den aktualisierten SAMV-Richtlinien vom September sei der erwartete Behandlungsaufwand ein neues Triagekriterium. Diese könne bei Ungeimpften mit einem schweren Covid-Verlauf hoch sein und damit ins Gewicht fallen. Das müsse aber im Einzelfall beurteilt werden, betont Ackermann.

«Rote Linie, die wir nicht überschreiten dürfen»

Auch Michele Genoni, Herzchirurg und Präsident des Dachverbands der chirurgischen Fachgesellschaften der Schweizs, sagt: «Für mich ist klar, dass der Impfstatus nie Teil der Beurteilung sein darf, ob jemand ein Intensivbett erhält. Wenn wirklich eine harte Triage nötig ist, soll die Person gerettet werden, deren Prognose am besten ist – ob das dann der ungeimpfte Covid-Patient oder ein Unfallopfer ist, muss von Fall zu Fall entschieden werden.» Dass Covid-Patienten – unabhängig vom Impfstatus – in der Regel sehr lange auf der Intensivstation bleiben müssten, könne bei unklarer Prognose als ein Faktor von vielen aber durchaus eine Rolle spielen.

Entschieden gegen jegliche Berücksichtigung des Impfstatus im Triageprozess ist Medizinethikerin Ruth Baumann-Hölzle von der Stiftung «Dialog Ethik». Die Benachteiligung von Ungeimpften widerspreche den Menschenrechten: «Das ist eine rote Linie, die wir nicht überschreiten dürfen.» Die Prinzipien der Menschenrechte und Menschenwürde dürften auch in einer Krise nicht über Bord geworfen werden: «Genau jetzt werden sie auf die Probe gestellt.»

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