Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Jeder zehnte Italiener lebt in ArmutDie andere Wunde der Pandemie

Es kommen auch Menschen aus sozialen Schichten, die früher nicht kamen: Essensausgabe bei Pane Quotidiano, einer Hilfsorganisation in Mailand, im März.

Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.

An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.

Die Pandemie hat neben Krankheit und Tod auch neue Armut gebracht. In Italien, so hat es das nationale Statistikamt errechnet, ist die Zahl der Einwohner, die in absoluter Armut leben, im vergangenen Jahr auf einen Rekordwert gestiegen – zumindest, seit so gerechnet wird. Mehr als 2 Millionen Familien gehörten 2020 in die Kategorie «Povertà assoluta». Das sind 7,7 Prozent aller Familien im Land. 2019 waren es 6,4 Prozent.

In absoluten Zahlen: 5,6 Millionen Italienerinnen und Italiener sind nach der Berechnungsmethode von Istat absolut arm, eine Million mehr als im Vorjahr, fast jede oder jeder Zehnte. Und noch etwas offenbaren die Zahlen: Für einmal trifft ein soziales Phänomen das ganze, wirtschaftlich zerrissene Land. Mehr noch: Im wohlhabenderen Norden Italiens wuchs die Armut in der Pandemie zweimal so stark wie im Süden.

«Hunger war das grösste Problem. Wir haben unsere Verteilzentren in Rom von 3 auf 28 erhöht.»

Augusto D’Angelo von der Hilfsorganisation Sant’Egidio

Anzeichen dafür hatte es schon lange vor dem Bericht gegeben. Als nach dem ersten Lockdown im Frühling 2020 die Gassenküchen und Ausgabestellen karitativer Organisationen wieder öffnen durften, waren die Warteschlangen so lang wie nie davor – nicht nur in Neapel und Palermo, sondern eben auch in Rom, Genua, Padua, Mailand.

«Der Staat war in der ersten Welle noch nicht bereit»: Augusto D’Angelo, Universitätsprofessor und Mitglied der katholischen Laienorganisation Sant’Egidio.

«Wir haben unsere Verteilzentren für Essen in Rom von 3 auf 28 erhöht», sagt Augusto D’Angelo, 59 Jahre alt, Geschichtsprofessor an der römischen Universität La Sapienza und Mitglied der ersten Stunde der katholischen Laienorganisation Sant’Egidio. «Hunger war das grösste Problem.»

Der Staat sei in der ersten Welle noch nicht bereit gewesen. «Es gab nur uns, die Caritas, Vereinigungen aus dem Terzo Settore.» Dritter Sektor, so nennt man Hilfsvereinigungen für die Ärmsten, für Obdachlose und Migranten. In Italien gibt es viele engagierte Organisationen mit Hunderttausenden freiwilligen Helfern und Spendern – ein wichtiges Stützbein der Gesellschaft.

Nun war auch Mailand mal betroffen – ausgerechnet

Die parteilose Mailänder Freiwilligenorganisation Pane Quotidiano, Tägliches Brot, ist so eine Vereinigung. Gegründet wurde sie 1898, sie musste in ihrer Geschichte auch während der Kriege nie schliessen. Bis Corona kam. Vielleicht waren die Bilder vor ihren zwei Ausgabestellen in Mailand, an der Via Toscana und am Viale Monza, für die Italiener die aufrüttelndsten von allen.

Man sah dort auch Menschen anstehen für Essenspakete aus Pasta, einer Dose Gemüse, frischen Früchten und Brot, die man früher da noch nie gesehen hatte. Auch Junge waren dabei, die ihren Job verloren hatten in der Pandemie. Mailand gilt als Inbegriff der nationalen Moderne, als mythisch überhöhter Antrieb von Wirtschaft und Wohlstand. Nun hatte es auch Mailand erwischt. In der Stadt habe Sant’Egidio die Essensrationen verdreifacht, sagt D‘Angelo.

Was wäre gewesen, wenn es keinen Bürgerlohn gegeben hätte?

In Italien gilt zwar seit letztem Jahr ein Entlassungsstopp: Der Staat verbietet den Firmen, ihre Angestellten auf die Strasse zu stellen, und finanziert dafür Kurzarbeit. Doch nun rächte sich, dass viele Italiener schwarz arbeiten, ohne Vertrag, Sozialleistungen und Kündigungsschutz – in fast einem Viertel der italienischen Wirtschaft läuft das so, auch im Tourismussektor und in den Restaurants, die beide arg getroffen wurden.

Kellner, Pizzabäcker, Hotelangestellte verloren ihren Job – auch viele ausländische. Hätte der Staat nicht massiv geholfen und hätten einige Millionen Italiener aus den fragileren Schichten nicht auf den Bürgerlohn bauen können, wäre die Armut noch viel stärker angestiegen.

Mit mahnendem Appell: Guido Barilla, Konzernchef des gleichnamigen Pastaherstellers, hat einen Shitstorm ausgelöst.

Jetzt, da Wirtschaft und Tourismus endlich wieder in Gang kommen, suchen Firmen Angestellte in grosser Zahl und klagen, sie würden nicht genügend Arbeitskräfte finden, etwa für die Sommersaison. Angeboten werden hauptsächlich zeitlich begrenzte Jobs. Unternehmer verbreiten das maliziöse Narrativ, viele Italiener würden sich deshalb nicht bewerben, weil sie lieber von den Zuschüssen lebten.

«Ich richte einen Appell an die Jungen: Macht es euch nicht zu bequem.»

Guido Barilla, Konzernchef

Eine heftige Reaktion löste Guido Barilla aus, Konzernchef des berühmten Pastafabrikanten aus Parma, als er in einem Interview sagte: «Ich richte einen Appell an die Jungen: Macht es euch nicht zu bequem mit einfachen Lösungen, verzichtet auf Hilfen und akzeptiert die Herausforderung.»

Vielleicht war das gar nicht böse gemeint, so kam es aber an. In den sozialen Medien gab es dafür einen veritablen Shitstorm: Der Milliardenerbe Barilla habe gut reden, hiess es. Und: Wenn die Unternehmen junge Mitarbeiter endlich anständig bezahlen würden, wäre man nicht in einer solch misslichen Lage.

Tatsächlich schaffen es viele junge, gut ausgebildete Italiener nicht, mit ihren ersten Löhnen ihren Lebensunterhalt autonom zu bestreiten, und ziehen deshalb weg. Die Pandemie verschärfte das Drama: In der Altersklasse 18 bis 34 Jahre wuchs die Armut 2020 besonders stark.