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Kriminalität in Schweden Was tun gegen die Gewalt der Banden?

Sozialarbeiter und Aussteiger aus den Gangs beklagen eine «Naivität» der Politik: Ein Forensiker bei der Spurensicherung am Tatort in Malmö.

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Der Bericht, den Schwedens nationale Behörde für Verbrechensvorbeugung Bra diese Woche vorstellte, hatte es in sich: Schweden ist das einzige Land Europas, in dem die Anzahl der tödlichen Schiessereien in den vergangenen zwei Jahrzehnten signifikant angestiegen ist. Zu Beginn des Jahrtausends gehörte Schweden zu den Ländern mit den niedrigsten Opferzahlen bei Schusswaffengewalt. 2018 aber hatte es Länder wie Kroatien, Lettland und andere osteuropäische Nationen hinter sich gelassen und war unter den 22 verglichenen Ländern die Nummer eins bei der Zahl der Todesopfer durch Schiessereien. Der Grund dafür: ein massiver Anstieg des Schusswaffengebrauchs im Bandenmilieu.

Der Bericht brachte in Schweden die Kriminalität mit Wucht auf die politische Agenda zurück. Das «Svenska Dagbladet» sprach von einem «Pisa-Schock in der Kriminalpolitik». Der Bericht sei geeignet, «das schwedische Selbstbild zu erschüttern». Die liberale Zeitung «Dagens Nyheter» meinte angesichts der für 2022 bevorstehenden Parlamentswahlen gar, «die Schiessereien könnten das Ende der Regierung einläuten». Keines der anderen in der Studie untersuchten Länder habe einen vergleichbaren Anstieg erlebt, heisst es in dem Bericht von Bra: Statistisch registrieren europäische Länder im Durchschnitt 1,6 Tote durch Schusswaffen pro eine Million Einwohner. In Schweden aber waren es in den letzten Jahren mehr als doppelt so viele: etwa 4 Tote pro eine Million Einwohner, im Jahr 2020 noch mehr, statistisch 4,6. Von den Todesschüssen fielen 8 von 10 im Bandenmilieu «in sozial benachteiligten Gebieten», heisst es in dem Bericht – weit mehr als in anderen Ländern: In den Niederlanden liegt dieser Anteil bei 60 Prozent, im benachbarten Finnland fallen Bandenmorde kaum ins Gewicht.

«Wie eine Art soziale Ansteckung»

Bei der Suche nach den Gründen liefert der Bericht kaum Antworten. Die Autoren verweisen auf Faktoren wie Drogenhandel, interne Bandenkonflikte und geringes Vertrauen in die Polizei – allerdings gibt es all das auch in den anderen Ländern. Warum also Schweden? «Wir wissen es nicht, es ist wie eine Art soziale Ansteckung», sagte Bra-Forscherin Klara Hradilova Selin bei der Vorstellung der Studie: «Wenn eine Schiesserei passiert, dann folgt oft kurz danach an einem Ort nicht weit entfernt eine andere.»

Nun diskutiert das Land. Es hätten sich wohl die Praktiken der Kriminellen geändert, sagte der Kriminologe Manne Gerell gegenüber «Dagens Nyheter»: «Wenn eine Bande anfängt, Kalaschnikows zu benutzen, können die anderen kein Messer mehr benutzen.» Andere verweisen auf die erschreckend niedrige Aufklärungsrate von tödlichen Bandenverbrechen: Gerade 23 Prozent werden aufgeklärt.

Die Sozialdemokraten von Premier Stefan Löfven hätten vor dem Verbrechen «kapituliert», behauptet die schwedische Opposition.

Der Zustrom illegaler Waffen seit den Balkankriegen spiele wohl ebenso eine Rolle wie die «wachsende Zahl junger Männer, die in prekären Verhältnissen aufgewachsen sind und die Schule abgebrochen haben», sagte der Stockholmer Kriminologe Sven Granath. «Dagens Nyheter» zitiert auch Sozialarbeiter und Aussteiger aus den Gangs, die eine «Naivität» der Politik beklagen, «selbst auferlegte Scheuklappen» und den «Unwillen, die Warnsignale zu erkennen», die seit mindestens einem Jahrzehnt aus städtischen Problemvierteln kämen. Grosse Zuwanderung und fehlgeschlagene Integrationsbemühungen bescherten den Banden Zulauf.

Die Verbrechensrate insgesamt ist in Schweden im internationalen Vergleich noch immer gering: Zahlen der UNO zufolge wurden 2017 in Europa im Durchschnitt 30 von einer Million Menschen Opfer einer tödlichen Gewalttat, in Schweden waren es trotz der vielen Todesschüsse insgesamt lediglich 11. Das Land hat aber tatsächlich ein einzigartiges Problem mit Bandenkriminalität. Und dass die Schiessereien dieser Banden zunehmend ausser Kontrolle geraten, wurde dem Land im August 2019 bewusst, als die 31-jährige angehende Ärztin Karolin Hakim in Malmö am helllichten Tage vor Zeugen erschossen wurde, während sie ihr kleines Baby im Arm hielt.

Die liberale «Dagens Nyheter» warnte, der Staat habe zu lange seine «Kernaufgaben» vernachlässigt.

Nach einer Schiesserei mit Toten in einem Restaurant in Göteborg: Ein Mann legt Blumen nieder und trauert.

Die Opposition glaubt nun, die Regierung mit Law-and-Order-Rhetorik vor sich hertreiben zu können. Die Sozialdemokraten von Premier Stefan Löfven hätten vor dem Verbrechen «kapituliert», schrieb Jimmie Akesson, Chef der rechtspopulistischen Schwedendemokraten, auf Facebook. Aber auch die liberale «Dagens Nyheter» warnte in ihrem Leitartikel, der Staat habe zu lange seine «Kernaufgaben» vernachlässigt, die Bandenkriminalität habe unter der Regierung Löfven noch einmal zugelegt.

Einen kleinen Hoffnungsschimmer gibt es: Im letzten halben Jahr sind dem Kriminologen Manne Gerell zufolge die Schiessereien wieder zurückgegangen, auf den niedrigsten Stand seit 2016. Teilweise sei das wohl zurückzuführen auf das Modellprojekt «Stop Shooting» der von Bandenkriminalität besonders betroffenen Stadt Malmö. Dessen Erkenntnisse müssten nun schnell auf andere Teile des Landes übertragen werden.