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Analyse zu den GrossprotestenNawalny schwebt mehr denn je in grosser Gefahr

«Freiheit für Nawalny»: Nicht nur in Moskau, in ganz Russland gingen Zehntausende Menschen für den Oppositionschef auf die Strasse.

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Michail Chodorkowski, der einst reichste Mann des Landes, fand klare Worte: «Russland ist zur Diktatur geworden», erklärte der Ex-Ölmagnat, der zehn Jahre in einem Straflager sass, weil er dem Kreml zu nahe gekommen war. Die «freie Welt» müsse reagieren, doppelte der einstige Schachweltmeister Garry Kasparow in der gemeinsamen Online-PK aus dem Londoner Exil nach. «Die freie Welt darf keine Spiele mit der Mafia spielen!»

Die beiden Kremlkritiker wandten sich vor allem an den Westen, denn in Russland werden ihre Stimmen kaum gehört – weder von den Demonstranten noch vom Regime. Das sollte Alexei Nawalny nicht passieren: Um seine Autorität in Russland nicht zu verlieren, verliess er Mitte Januar das sichere Deutschland, wo er sich von seiner Vergiftung erholte, und kehrte in die Heimat zurück, obwohl die Behörden angekündigt hatten, er werde gleich verhaftet.

Die Oppositionskollegen zu Hause schweigen

In Russland selber gingen wegen der Festnahme Zehntausende Menschen auf die Strasse, doch von seinen Oppositionskollegen zu Hause bekam Nawalny kaum Unterstützung. Keiner der alten liberalen Kämpfer für die Freiheit nahm an den Demonstrationen teil oder machte sich, wie die Exilanten in London, die Mühe einer Zoom-Pressekonferenz. Sie schwiegen einfachund liessen den Chef der russischen Opposition im Stich.

Und dieser Titel ist keine hohle Phrase. 2012, auf dem Höhepunkt der Proteste gegen Wladimir Putins dritte Amtszeit, raufte sich die Opposition zusammen. Nawalny stand mit einer ganzen Reihe prominenter Aktivisten, Schriftstellern, Journalisten und Politikern aus allen politischen Lagern auf der Bühne vor über hunderttausend Menschen.

Der Kampf für faire Wahlen im Winter 2011/12: Zusammen mit anderen Oppositionellen spricht Alexei Nawalny auf den Grossdemos.

Es waren die grössten Demos seit dem Ende der Sowjetunion. Die Demonstranten kamen mit Ballons, fantasievollen Plakaten und manche gar in bunten Verkleidungen: Die Kundgebungen sahen eher wie ein Volksfest aus, manche nannten sie die Winterrevolution. Die Polizei hielt sich zumindest am Anfang zurückkein Vergleich zu den von Gewalt überschatteten, wütenden Protesten letztes Wochenende.

Manche, vor allem unbekanntere Rädelsführer kamen für Jahre in Haft und wurden kaltgestellt.

170’000 Menschen haben sich nach den Grossdemos 2012 registriert, um einen Kopf für die vereinte Opposition zu bestimmen: Die Wahl fiel auf Alexei Nawalny. Doch heute ist ausser ihm faktisch niemand mehr übrig. Einige der damaligen Protagonisten sind frustriert ins Ausland emigriert und haben damit allen Einfluss auf die Heimat verloren, so etwa Kasparow oder der bekannte Krimiautor Boris Akunin.

Manche, vor allem unbekanntere Rädelsführer kamen für Jahre in Haft und wurden kaltgestellt, andere haben sich dem Kreml angebiedert. Einige sind gestorben, Boris Nemzow, einst der grosse Hoffnungsträger der Reformer, wurde ermordet.

Mit bunten Ballons und fantasievollen Plakaten zur «Winterrevolution»: Demonstration nach der Duma-Wahl im Winter 2011/12.

Und viele haben sich frustriert zurückgezogen aus der Politik. Vor allem um die Vertreter der liberalen Opposition wie den einstigen Premierminister Michail Kasjanow ist es still geworden. Denn mit dem dritten Amtsantritt Putins 2012 wurde der Umgang mit der Opposition härter. Es wurden neue, schärfere Gesetze erlassen, Teilnehmer an unerlaubten Demonstrationen wurden in die Nähe von Terroristen gerückt.

Denn der Volksaufstand, der mit Protesten gegen Manipulationen bei der Duma-Wahl begann, hatte die Mächtigen kalt erwischt. Insider sagen, im Kreml habe blanke Panik geherrscht. Seither hat Putin alles darangesetzt, das Land besser unter Kontrolle zu halten. Anfang 2021 wurde die Abschreckung mit Dutzenden von repressiven Gesetzen weiter ausgebaut. Unter anderem können nun nicht nur Organisationen, sondern auch Einzelpersonen als «ausländische Agenten» gebrandmarkt werden, einzelne Teilnehmer der Massenproteste vor neun Jahren haben dieses Etikett bereits abbekommen.

Insider sagen, bei den Mächtigen habe blanke Panik geherrscht: Über 100’000 Menschen gingen im Winter vor Putins Rückkehr in den Kreml auf die Strasse.

Der Einzige, der immer noch mit aller Kraft gegen den Kreml ankämpft, ist Alexei Nawalny. An ihn traute man sich lange nicht recht heran. Zuerst hat man versucht, ihn zu isolieren, dann für die eigenen Zwecke einzuspannen, so wie es Putin mit allen Oppositionsparteien im Parlament gemacht hat: Sie dürfen schimpfen und die Regierung kritisieren, solange sie bei allen Gesetzesvorlagen brav mit dem Kreml stimmen.

Doch Nawalny blieb widerborstig. Schliesslich stellte man ihn vor Gericht, liess ihn verhaften – um ihn am nächsten Tag auf Bewährung wieder freizulassen und ihm zu erlauben, bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau mitzumachen. Schliesslich wurde er als fanatischer Querulant dargestellt, der unerlaubt kleine Kinder auf die Strasse bringt, welche von der Polizei dann gnadenlos verhaftet wurden.

Der Kreml ist in Teufels Küche

Diese Strategie hat nicht schlecht funktioniert. 2013 sagten laut dem Soziologieinstitut Lewada 59 Prozent der Befragten, sie hätten noch nie etwas von Nawalny gehört. Nach seiner Vergiftung waren es nur noch 12 Prozent, die ihn nicht kannten. 20 Prozent gaben bei der Umfrage im September zudem an, seine Politik zu unterstützen. Und die Verhaftung nach seiner mutigen Rückkehr diesen Monat hat Nawalny noch mal eine ganz neue Autorität verschafft, das haben die wütenden Demonstrationen quer durch ganz Russland gezeigt.

Das bringt den Kreml nun in Teufels Küche: Soll man Nawalny des lieben Friedens willen freilassen Mitte Februar, wenn die 30 Tage Haft ablaufen, und ihm damit einen triumphalen Sieg gönnen? Oder soll man ihn für Jahre ins Lager stecken und einen veritablen Volksaufstand riskieren?

Mit aller Gewalt: Die Sicherheitskräfte gingen letztes Wochenende in Moskau brutal gegen Menschen vor, die sich für Nawalny auf die Strasse wagten.

Offensichtlich hat sich der Kreml noch nicht entschieden. Doch die Versuchung, den letzten wirklichen Oppositionellen aus dem Verkehr zu ziehen, dürfte gross sein. Bringt man ihn zum Schweigen, ist niemand mehr da, der zum Strassenprotest aufrufen und politischen Druck aufbauen kann.

Alexei Nawalny schwebt deshalb in grosser Gefahr. Wird er ausser Gefecht gesetzt, wird das zwar im ganzen Land eine Protestwelle auslösen, aber wohl nur kurzfristig. Wenn die ärgste Wut verraucht ist, dürften die Menschen frustriert nach Hause zurückkehren, was sollen sie auch sonst tun? Und in Russland würde das einkehren, was der Kreml offensichtlich will: Friedhofsruhe.