«Schweiz hat endlich eingesehen, dass sie keine Insel ist»

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Ende des «Sonderwegs»«Schweiz hat endlich eingesehen, dass sie keine Insel ist»

Lange wunderte sich Europa über die zurückhaltenden Corona-Massnahmen in der Schweiz. Dass der Bundesrat nun verschärft, begrüssen Epidemiologen.

Darum gehts

  • Der Bundesrat hat im Kampf gegen Corona einen Teil-Lockdown beschlossen.

  • Experten fordern seit Wochen härtere Massnahmen – und sind nun erleichtert, dass die Schweiz sich dem Ausland annähert.

  • Jan Fehr von der Universität Zürich hätte auch die Skigebiete geschlossen.

  • Nicole Probst-Hensch, Public-Health-Expertin des Swiss TPH, setzt grosse Hoffnungen auf die Impfung.

  • Die beiden Experten nehmen Stellung zum Bundesrats-Beschluss.

Seit Wochen fordert ein Teil der Epidemiologen und Public-Health-Experten härtere Massnahmen im Kampf gegen das Coronavirus. Um eine «brutale dritte Welle», wie Gesundheitsminister Alain Berset es ausdrückte, zu verhindern, hat der Bundesrat nun harte Massnahmen beschlossen.

Die SVP kritisiert das scharf und wirft dem Bundesrat vor, die Schweiz in die Armut zu treiben. Epidemiologen hingegen begrüssen die Massnahmen. Jan Fehr, Professor und Leiter des Departements Public & Global Health an der Universität Zürich, und Nicole Probst-Hensch, Leiterin des Departements Epidemiologie und Public Health am Swiss TPH, nehmen Stellung.

Zum Ende des Schweizer «Sonderwegs»

Jan Fehr: Die Schweiz hat endlich eingesehen, dass sie keine Insel ist. Das war ein Entscheid, der absolut nötig war und wir können hoffen, dass er ausreicht, um die Situation in den Griff zu bekommen. Ich hätte mir das Ende des Schweizer Sonderwegs schon vor Wochen gewünscht.

Nicole Probst-Hensch: Es ist ein Kurswechsel des Bundesrats und mit den harten Massnahmen nähern wir uns der Strategie an, die viele europäische Länder schon länger fahren. Aber wir haben jetzt zwei Impfstoffe und müssen unsere Ressourcen darauf konzentrieren. Der harte Lockdown kann dabei helfen.

Zu den bisherigen Entscheiden

Probst: Ich stehe hinter dem bisherigen Weg des Bundesrats. Hätte er schon im Herbst wieder harte Massnahmen eingeführt, wären die Schäden für die Psyche jedes Einzelnen viel grösser gewesen. Jeder Weg fordert Kollateralschäden und es geht immer darum, eine Balance zu finden zwischen mehr Todesfällen bei der wirklich alten Bevölkerung und der Lebensqualität bei der Arbeitsbevölkerung, bei denen, die Angst haben vor einem Jobverlust oder vor Vereinsamung. Auch wenn ich die vielen Todesfälle auf keinen Fall verharmlosen möchte: Wir konnten die Bevölkerung nicht monatelang einsperren.

Zur mutierten Virus-Variante

Probst: Wir können die Wahrscheinlichkeit, dass die Zahlen trotz hartem Lockdown auch in der Schweiz wieder ansteigen, nicht gänzlich ausschliessen. Doch die Massnahmen werden uns hoffentlich Zeit verschaffen, um alle Menschen zu impfen, die das wollen.

Fehr: Die bisherigen Studien deuten darauf hin, dass die bekannten Mutationen keinen Einfluss auf die Impfung haben. Es besteht aber immer die Gefahr, dass eine neue Mutation auftaucht, für die das nicht gilt. Deshalb sind die harten Einschränkungen so wichtig. Derzeit rettet uns als Gesellschaft noch nicht die Impfung, sondern der Lockdown.

Zu den Schulen

Probst: Es ist richtig, dass die Schulen derzeit nicht geschlossen werden. Die Erfahrungen aus der ersten Welle haben gezeigt, wie gross die dadurch entstehenden Belastungen für die Familien sein können. Gerade sozial schwächer gestellte Familien leiden extrem unter einer Schulschliessung.

Fehr: Die Kinder scheinen nach jetzigem Wissensstand nicht die Treiber dieser Pandemie zu sein, wie auch unsere Studie «Ciao Corona» zeigte. Bildung ist extrem wichtig und Schulschliessungen bringen grosse Herausforderungen mit sich. Als letzte Möglichkeit müssen aber auch Schulschliessungen in Betracht gezogen werden.

Zu den Skigebieten

Fehr: Die Skigebiete offen zu halten, macht schlicht keinen Sinn. Man fährt zusammen hin, ist zusammen in den ÖV oder im Auto, fährt zusammen in der Gondelbahn: Das alles fördert die Mobilität und die Durchmischung von Haushalten und damit die Gefahr von Ansteckungen.

Probst: Das ist eine schwierige Geschichte. Wir haben kaum Evidenz, ob sich beim Skifahren viele Leute anstecken. Und es ist wichtig, dass die Leute noch nach draussen und sich bewegen können. Insofern verstehe ich den Entscheid, dass die Skigebiete geöffnet bleiben.

Zu den kommenden Monaten

Probst: Die Impfkampagnen sind gut angelaufen. Es gibt aber auch Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen. Es ist klar, dass wir auch im Sommer noch Infektionen haben werden und nicht einfach zurück zur Normalität gehen können. Die Hygiene-Massnahmen, das Social Distancing und die Masken werden auch während des Lockdowns und darüber hinaus zentral bleiben.

Fehr: Man muss realistisch sein. Mit den Entscheiden des Bundesrats und den zwei Impfstoffen haben wir einen Silberstreifen am Horizont. Doch die Impfungen sind ein logistisches Megaprojekt, das braucht extrem viele Ressourcen, ausreichend Impfstoff und schlicht auch einfach die nötige Zeit. Die ganze Hoffnung nur auf die Impfstoffe zu setzen, wäre verfehlt. Wir werden noch monatelang mit Einschränkungen leben müssen.

Das gilt ab dem 18. Januar

Der Bundesrat hat am Mittwoch entschieden, die bestehenden Massnahmen zu verlängern: Restaurants, Kulturbetriebe, Sportanlagen und Freizeiteinrichtungen bleiben bis Ende Februar geschlossen. Dazu müssen ab Montag alle Läden schliessen, die keine Waren für den täglichen Gebrauch anbieten, private Treffen und Menschenansammlungen im öffentlichen Raum werden auf fünf Personen beschränkt. Es gilt eine Homeoffice-Pflicht, wo diese möglich und vertretbar ist. Alle Massnahmen gelten befristet bis am 28. Februar.

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