Pfleger erzählt, warum die Arbeit manchmal ein Horror ist

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«Kollegen fühlen sich als Kanonenfutter»Pfleger erzählt, warum die Arbeit manchmal ein Horror ist

Ein langjähriger Pfleger erzählt, warum die Arbeit in der Pflege manchmal ein Horror ist. Trotzdem entscheiden sich in der Krise mehr junge Menschen für einen Beruf in der Pflege.

Darum gehts

  • Alain R. Müller ist seit 20 Jahren diplomierter Pflegefachmann HF. Er schildert, was in seinem Berufsalltag oft falsch läuft.

  • Um sich für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege zu engagieren, hat er während des Lockdown im Frühling die Plattform Pflegedurchbruch.com gegründet.

  • Es gibt aber auch gute Nachrichten: In der Krise streben mehr Menschen einen Beruf in der Pflege an.

Alain R. Müller hat ursprünglich Dachdecker gelernt, arbeitet nun aber bereits seit über 20 Jahren als diplomierter Pflegefachmann HF, hauptsächlich in der Psychiatrie. Als im Frühling der Lockdown ausgerufen wurde und sich der Druck auf das Pflegepersonal erhöhte, reichte es ihm: «In der Krise akzentuiert sich, was in der Pflege seit Jahrzehnten falsch läuft. Ich fand, es ist an der Zeit, dass wir hinstehen und uns gegen die unwürdigen Arbeitsbedingungen wehren.»

Aus diesem Grund gründete er die Plattform Pflegedurchbruch.com (siehe unten). Kollegen, die mit Corona-Patienten arbeiteten, könnten sich teilweise nur mit Spitalnachthemden oder Einweg-Regenmänteln schützen. «Die kann man im Coop kaufen, man kennt sie von Open Airs. Es gibt Kollegen, die sich wie Kanonenfutter fühlen», sagt Müller (siehe Video oben).

20 Minuten gibt er Einblick in schmerzliche, schwierige, stressige – und manchmal aus seiner Sicht schlicht unhaltbare Situationen, die er im Alltag als Pfleger erleben musste. «Da gab es den Fall einer bettlägerigen Frau im Pflegeheim», erzählt Müller. «Das Problem bei bettlägerigen Patienten ist, dass sie einen sogenannten Dekubitus entwickeln können, ein Druckgeschwür. Sie müssen ständig bewegt werden, um zu verhindern, dass das Gewebe an den Druckstellen nicht mehr durchblutet wird und abstirbt.»

«Es stank nach Verwesung»

Im stressigen Alltag im vollen Pflegeheim sei das aber nicht möglich gewesen. «Mir kam es vor, als würde die Heimleitung das bewusst in Kauf nehmen», sagt Müller. Die Folge: «An der Ferse der Frau bildete sich eine Nekrose, das Gewebe starb ab. Weil es Hochsommer war, stank es im Zimmer nach Verwesung.» Die Ärzte mussten der Frau den Unterschenkel amputieren. «Doch auch diese Wunde entzündete sich wieder, die Frau starb an einer Blutvergiftung.»

Auch in der Psychiatrie habe das Personal oft einfach zu wenig Ressourcen: «Wir arbeiteten zu zweit auf einer Station mit bis zu 30 teilweise akut erkrankten Patienten. Einer war offensichtlich psychotisch, hatte Wahnvorstellungen. Er bildete sich ein, er müsse jetzt raus und seine Freundin suchen.» Der schon ältere Patient sei entwichen. «Die Polizei fand ihn in einem Park, es war Winter und die Temperaturen bei etwa 0 Grad. Der Patient hätte erfrieren können.»

Das sind nur einige Erlebnisse, welche Müller schildert. In einem offenen Brief hat er sich kürzlich an die Politik und die Bevölkerung gewendet. Er prangert die Arbeitsbedingungen an, aber auch, dass dem Pflegepersonal gedroht und Maulkörbe auferlegt würden. «Wenn Sie nicht bald anfangen, tiefgreifende und wirksame Verbesserungen in unserem beruflichen Alltag einzuführen, werden Ihnen noch mehr Gesundheitsfachpersonen davonlaufen, als es bis jetzt schon der Fall ist», warnt Müller.

Doch es gibt auch gute Nachrichten. Das Interesse an Pflegeberufen hat in der Corona-Krise deutlich zugenommen. Wieso zwei junge Frauen den widrigen Bedingungen zum Trotz in der Pflege arbeiten wollen, erzählen sie hier.

«Ich werde so lange kämpfen, bis sich etwas ändert»

«Ich bin seit 20 Jahren in der Pflege und sehe, dass es immer schwieriger wird», sagt Müller. Er habe mittlerweile «den Kanal so voll», dass er kämpfen wolle. «Und zwar so lange, bis sich etwas geändert hat.» Dass die Protestaktionen vom Oktober allein für sich etwas bringen, glaubt er nicht – ausser dass die Anliegen in die Öffentlichkeit getragen wurden. Müller will, dass die Pflegenden aufwachen und aufhören, die Faust im Sack zu machen. «Es wird noch mehr Aktionen brauchen, um den Druck auf die Politik zu erhöhen.» Im April hat Müller deshalb die Plattform Pflegedurchbruch.com lanciert. Dort können sich Pflegende vernetzen. Die Ziele deckten sich grundsätzlich mit jenen der Pflegeinitiative des Berufsverbands SBK. «Denn letztlich leiden nicht nur die Pflegenden, sondern vor allem die Patienten unter den Bedingungen. Sie werden kränker, müssen länger als nötig im Spital bleiben und sterben früher, weil wir sie nicht ausreichend behandeln können. Eigentlich geht es also um die Patienten und ihre Angehörigen. Irgendwann werden wir alle pflegebedürftig sein. Letztlich geht es uns also alle etwas an.»

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