Lockdown oder nicht – die Schweiz steht vor der Woche der Wahrheit

Publiziert

Explodieren Fallzahlen weiter?Lockdown oder nicht – die Schweiz steht vor der Woche der Wahrheit

Schweizer Spitäler kämpfen bei stark steigenden Corona-Fallzahlen mit einer Flut von Covid-Patienten. Epidemiologen halten einen zweiten Lockdown für wahrscheinlich. Wirtschaftsvertreter warnen vor übereilten Schlüssen.

Darum gehts

  • Diese Woche zeigt sich, ob die bisherigen Massnahmen des Bundesrats nützen – oder die Zahlen weiter explodieren.

  • Epidemiologen halten einen zweiten Lockdown für wahrscheinlich.

  • Geht es nach Wirtschaftsvertretern, ziehen die Epidemiologen verfrühte Schlüsse.

Maskenpflicht in Bahnhöfen, Verbot von Treffen von mehr als 15 Personen im öffentlichen Raum, Sitzpflicht für Konsumation in Clubs und Bars, Homeoffice-Empfehlung: Vor einer Woche hat der Bundesrat letztmals schweizweite Massnahmen beschlossen. Die Zahlen haben sich seither verdoppelt auf 6634 Fälle am Freitag. Gesundheitsminister Alain Berset relativierte: Ungefähr 10 Tage müsse man warten, bis man den positiven Effekt der Massnahmen sehe. Diese Frist läuft diese Woche ab.

Am Mittwoch dürfte der Bundesrat einen schweizweiten «Slowdown» beschliessen. Die Vorschläge sind bereits durchgesickert: Maskenpflicht auch im Freien, Sperrstunde ab 22 Uhr, 50-Personen-Grenze für Veranstaltungen, Fernunterricht. Mehrere Kantone haben am Wochenende ihrerseits weitere Einschränkungen verordnet.

Für Epidemiologen kommen diese Schritte aber zu spät. Klettern die Zahlen weiter so stark in die Höhe, brauche es einschneidende Eingriffe – sie halten einen Lockdown als Notmassnahme für wahrscheinlich. Auch für Spitäler ist diese Woche entscheidend: Das Universitätsspital Genf rechnet schon in den nächsten Tagen mit bereits deutlich mehr Covid-Patienten als während der Pandemie-Spitze im Frühling. Es bietet darum Freiwillige und Pensionierte auf. Droht nun also doch noch ein Lockdown?

Das sagen Epidemiologen

«Es ist absolut möglich, dass ein zweiter Lockdown unumgänglich wird», sagt Nicola Low, Epidemiologin an der Universität Bern und Mitglied der Covid-19-Taskforce (siehe Box). Eine Reaktion im Sommer, aber spätestens Ende September hätte die Situation heute verhindern können. Am Lockdown-Punkt angelangt sei die Schweiz, wenn die Fallzahlen auch nach Ablauf der Wirkungsfrist der bisher getroffenen Massnahmen unverändert rasant ansteigen würden.

«Es ist zu befürchten, dass wir Ende nächste Woche über 10’000 diagnostizierte Fälle pro Tag haben werden. Dazu kommt die Dunkelziffer», sagt Low. Um einen zweiten Lockdown zu verhindern, könnte es bereits zu spät sein. «Auf keinen Fall sollte zugewartet werden, bis die Kapazität der Spitäler nicht mehr ausreicht. Jeder Tag zählt.» Dringend müssten weitere Massnahmen umgesetzt werden (siehe Box unten).

Auch Andreas Cerny, Infektiologe am Spital Moncucco in Lugano, ist der Meinung, der Bund habe wertvolle Zeit verpasst, um einen zweiten Lockdown auszuschliessen. In den nächsten sieben Tagen werde es eine Verdoppelung der Fallzahlen geben. Aufgrund dieser Zahl und der Anzahl Patienten auf den Akut- und Intensivstationen könnten die Spitäler berechnen, wann ihr System an den Anschlag komme. «Jetzt ist das Risiko sehr hoch, dass wir nun schweizweit in eine ähnliche Situation kommen wie das Tessin im Frühling.»

Zu Spitzenzeiten seien in den Tessiner Spitälern 70 Prozent der Intensivpflegebetten ausgelastet gewesen, sagt Cerny. Dies unter Bedingungen, wo die Kapazitäten maximal ausgebaut worden seien. «Die Turnuszeiten des Personals wurden verlängert und man musste zusätzlich Personal rekrutieren.» Durch den Lockdown hätten sich die Engpässe nicht verschärft. «Doch je länger eine solche Situation andauert, desto schneller stossen die Spitäler an ihre Grenzen.»

Das sagt die Wirtschaft

Für Wirtschaftsvertreter ist die Diskussion über einen zweiten Lockdown hingegen noch weit entfernt. «Ich verstehe nicht, warum die Taskforce vom Bund in der Öffentlichkeit dermassen Druck aufsetzt», sagt Hans-Ulrich Bigler, Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbands (SGV). Noch habe sich nicht einmal herausgestellt, wie die bereits umgesetzten Massnahmen von Bund und Kantonen wirken. Der SGV und die Gewerkschaften stellten fest, dass die Schutzkonzepte der Branchen auch gemäss Bundesrat sehr gut funktionierten.

Laut Bigler muss die Bevölkerung alles daransetzen, um einen zweiten Lockdown zu verhindern. Zentral dabei sei das konsequente Umsetzen der Hygienemassnahmen und Abstandsregeln. «Ein zweiter Lockdown würde zu massivsten wirtschaftlichen Schäden und einer hohen Konkurszahl führen, weil Firmen vom ersten Lockdown immer noch angeschlagen sind und um ihren Weiterbestand kämpfen müssen.»

Kurzer oder zäher zweiter Lockdown?

Vom 17. März bis am 29. April steckte die Schweiz im Lockdown. Nicola Low, Epidemiologin an der Universität Bern und Mitglied der Covid-19-Taskforce, sagt, dass ein zweiter Lockdown weniger lange dauern könnte, falls starke Massnahmen rasch schweizweit umgesetzt würden. «Die Wirkung sollte nach zwei Wochen evaluiert und je nachdem eine Verlängerung beschlossen werden.» Möglich sei dies auch, weil im Gegensatz zum Frühling Masken zur Verfügung stünden. Sie hoffe, dass die Schulen daher offen bleiben könnten.
Andreas Cerny, Infektiologe am Spital Moncucco in Lugano, erwartet hingegen einen zähen zweiten Lockdown. «Wir wären zu einem Lockdown bis März gezwungen.» Die Frühlingsferien und die Wärme hätten die Ausbreitung des Virus abgebremst und dadurch einen kürzeren Lockdown ermöglicht. «Lockerungsschritte müsste man zudem in einem 4-Wochen-Rhythmus beschliessen.» Im Frühling habe der Bund auf Druck der niedrigen Fallzahlen und der Wirtschaft stattdessen im 2-Wochen-Rhythmus Lockerungen umgesetzt und dem kontinuierlichen Anstieg der Fallzahlen zu lange tatenlos zugeschaut.

Geforderte Massnahmen

Damit die Schweiz ein geringeres Risiko läuft, in einen zweiten Lockdown zu rasseln, pocht
Taskforce-Mitglied Nicola Low auf die Massnahmen, die die Covid-19-Taskforce des Bundes in ihrem Lagebulletin vom 23. Oktober veröffentlichte. Lesen Sie die Details dazu hier. Bei verzögerter Umsetzung könnte dieses Massnahmenpaket bereits nicht mehr ausreichen, so Low. Infektiologe Andreas Cerny fordert, dass der Bund ab sofort ein geeignetes Massnahmenpaket formuliert und umsetzt.

Deine Meinung

1877 Kommentare