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Der neue Corona-KrisenherdMit dem Virus kommt in der Türkei auch das Misstrauen

Wahrzeichen Istanbuls: Ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung reinigt und desinfiziert den Platz vor der berühmten Blauen Moschee.

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Doktor Güle Cinar wollte sicher nie landesweit bekannt werden, aber nun wurde sie es über Nacht doch. Wenn auch auf für die türkische Ärztin unangenehme Weise: Bei einer Corona-Besprechung in ihrer Klinik an der Ankara-Universität vor gut einer Woche hatte Cinar gesagt, dass die Lage schlimm sei und man hoffe, dass «wir kein zweites Italien» werden. Vor allem in der 16-Millionen-Metropole Istanbul und in der Hauptstadt Ankara sei die Durchseuchung weit höher, als die Regierung zugebe: «Es geht nicht um Hunderte Fälle, es geht um Tausende.»

Cinars Auftritt wurde von einem der Anwesenden heimlich aufgenommen und ins Netz gestellt. Als Ursache nannte die Medizinerin die unkontrollierte Rückkehr Tausender Mekka-Pilger in die Heimat. Nach dem Aufschrei im Netz stellte die Ärztin ihre eigenen Aussagen infrage und betonte, alles sei aus dem Zusammenhang gerissen worden.

Genützt haben wird das durchsichtige Dementi ebenso wenig wie die Versicherung von Gesundheitsminister Fahrettin Koca, dass alle von ihm genannten Corona-Zahlen «auf Tatsachen beruhen» und er die Verhältnisse stets «in Real-Time» wiedergebe. Der Umgang mit den Zahlen, den die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Corona-Krise zeigt, erweckt Misstrauen in einem Land, in dem die Medien seit dem Putschversuch von 2016 ihre Rolle nicht mehr erfüllen dürfen und sich die kritische Öffentlichkeit in die sozialen Medien verlagert hat.

Kölnischwasser für die Armen

Erst hatte die Regierung die Türkei als quasi naturgegeben Corona-resistent verkauft und Kölnischwasser als Desinfektionsmittel gegen Covid-19 an die Armen verteilen lassen. Dann überraschte Minister Koca immer wieder mit seinen niedrigen Zahlen. Präsident Erdogan selbst nahm vor einigen Tagen schon die Zahl 8554 Infizierter in den Mund, während sein Minister noch von weniger als 4000 Personen sprach. Der Staatschef korrigierte sich kurz darauf und nannte 5698. Eine Erklärung für die krasse Diskrepanz gab er nicht.

Dass dann auch noch Zahlen der Friedhofsverwaltung von Istanbul für die Bestattungen an einem einzelnen Tag auftauchten, die nicht zu den öffentlichen vom selben Datum passten, sprach ebenfalls für sich; auch hier handelte es sich angeblich um eine Fehlinformation.

Trotz allem hat die Türkei in den Corona-Modus geschaltet. Die meisten Menschen bleiben zu Hause, wann immer es geht, halten auf der Strasse Abstand, tragen Masken und Handschuhe, in der ohnehin wenig frequentierten U-Bahn, in Supermärkten und in Banken stehen sie an markierten Stellen. Andere schert das Risiko weniger, Besitzer vieler kleiner Läden belegen Käsetoasts ohne Handschuhe, an den wenigen offenen Dönerbuden wird das Fleisch oft ohne Mundschutz vom Spiess gesäbelt.

Gespenstische Stille: Strassen in der türkischen Metropole Istanbul.

Nicht, dass die Regierung nichts täte: Plakate versichern «Zusammen schaffen wir das», Hotlines wurden eingerichtet. Erst wurde nur Alten und Kranken mehr als nachdrücklich nahegelegt, nicht mehr auf die Strasse zu gehen. Inzwischen sind alle aufgefordert, ihre Wohnung nur zur Arbeit oder zum Einkauf zu verlassen. Schulen, Unis und Lokale sind wie Parks und Freizeitanlagen längst geschlossen, öffentliche Veranstaltungen vom Freitagsgebet bis zum Theater abgesagt, Fussballvereine spielen vor leeren Rängen.

Erdogan erklärte, dass er sieben seiner Monatsgehälter für Corona-Bekämpfung spendiere.

Auch an symbolischen Gesten fehlt es nicht: Erdogan erklärte, dass er sieben seiner Monatsgehälter für Corona-Bekämpfung spendiere, Fussballer, Sänger und andere Prominente schlossen sich an. Vor allem aber wurden nun auch die Verbindungen zwischen den Metropolen quasi gekappt, was auf Schwerpunkte der Infektion in Grossstädten schliessen lässt. Der Überlandverkehr mit Bussen wurde ebenso eingestellt wie der Fährbetrieb zwischen den grossen Städten an Bosporus und Marmarameer. Reisen zwischen Städten sind nur mit behördlicher Genehmigung gestattet, der Taxibetrieb ist ausgedünnt, Flug- und Grenzverkehr mit dem Ausland eingestellt. Was in den abgelegenen Kleinstädten und Dörfern geschieht, bleibt offen: Einzelne Bezirke und Ortschaften stehen unter Quarantäne.

Migranten zurückgeholt

Als peinlicher Nebeneffekt der auf Eskalation setzenden Flüchtlingspolitik Erdogans wurden sogar die vor drei Wochen mit Getöse an die griechische Grenze gelockten Migranten zurückgeholt. Die Zeltlager der angeblich Tausenden Flüchtlinge, die es entgegen Ankaras Versprechen offener Grenzen nie durch die Sperranlagen in EU-Gebiet geschafft hatten, wurden aufgelöst, die Migranten ins Landesinnere gebracht.

Die entscheidende Frage ist aber auch in der Türkei, wie leistungsfähig das Gesundheitswesen ist. Die Ärztevereinigung TTB zog schon vor Wochen die Infektionszahlen in Zweifel, es werde zu wenig getestet. Auch sei das Personal schlecht ausgerüstet. Mehr als 1800 Pfleger und Ärzte wurden befragt, vorläufiges Ergebnis: Die Mehrheit hat keinen Zugang zu vernünftigen Masken oder Handschuhen. Das Gesundheitspersonal würde so zur Verbreitung des Virus beitragen, so der TTB.

Erdogan scheint bei all dem zu denken, dass seine Zukunft auch nach Corona vor allem von der in den letzten Jahren deutlich schlechteren ökonomischen Lage abhängt. Einen Lockdown will er offenbar vermeiden. Sein Rückhalt hängt weit weniger an seiner oft brachialen Aussenpolitik als an Arbeitslosenzahl, Inflation und sinkendem Wirtschaftswachstum. Die Opposition hält sich mit Kritik in der Corona-Krise noch zurück, aber sie wird dem Präsidenten ihre Rechnung am Ende aufmachen.