Fällt die EU in der Coronakrise auseinander?

Aktualisiert

Geschlossene GrenzenFällt die EU in der Coronakrise auseinander?

In der Coronakrise denkt jeder Staat in erster Linie an sich selbst. Laut Europa-Experte Darius Farman gibt das der Schweiz Luft im Poker um den EU-Rahmenvertrag.

D. Waldmeier
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D. Waldmeier

Per Video diskutierten die EU-Regierungschefs am Donnerstagabend, wie sie den finanzschwachen Staaten bei der Bewältigung der Coronakrise helfen können. Das Ergebnis des Krisengipfels: keine Lösung, sondern ein wüster Streit zwischen den hoch verschuldeten Südstaaten sowie Deutschland und den Niederlanden.

So sagte Portugals Premier Antonio Costa nach der Konferenz, er sehe die Europäische Union in Gefahr. Weder Italien noch Spanien hätten das Virus erzeugt. Schlicht «widerwärtig» fand er es, dass etwa die Niederlande die Ausgabe gemeinsamer Corona-Bonds zur Unterstützung der finanzschwachen Länder ablehnen. Bei diesen würden alle EU-Länder für die Schulden einzelner Staaten haften.

Grenzen sind dicht

Ein Comeback feiern in der Coronakrise die Grenzkontrollen. Polen wurde nach der Schliessung der Grenzen Mitte März noch von Brüssel gescholten. Inzwischen haben fast alle EU-Länder nachgezogen. Der französische Präsident Emmanuel Macron soll am Krisengipfel vor dem Ende des Schengen-Abkommens gewarnt haben. Und im Schengen-Staat Schweiz befürchteten das Tessin oder die Nordwestschweiz, dass die Nachbarn Grenzgänger nicht mehr in der Schweiz arbeiten lassen.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen fürchtet in der Coronakrise denn auch um den Zusammenhalt der Europäischen Union. Nach der Einführung von Grenzkontrollen habe das Schengen-Abkommen auf der Kippe gestanden, sagte von der Leyen am Samstag. Die Grenzschliessungen einzelner EU-Staaten hätten das Coronavirus nicht aufgehalten, aber vielen Firmen sehr geschadet und wichtige Lieferketten in Europa unterbrochen. In dieser grossen Krise liege aber auch «die Chance, dass sich Europa noch einmal neu erfindet». Sie sagte aber auch, dass die Solidarität unter den Staaten allmählich wieder spiele – ein Umstand, mit dem auch die EU wirbt.

«Nationalistische Reflexe spielten»

Welche Folgen hat die Coronakrise für die EU? Für den Schweizer Europapolitik-Experte Darius Farman vom Thinktank foraus ist klar, dass die Pandemie Brüssel nach dem Brexit-Hickhack auf dem falschen Fuss erwischt hat: «Zu Beginn der Krise haben nationalistische Reflexe gespielt.» Die Ausfuhrverbote für Schutzausrüstung durch mehrere EU-Staaten beispielsweise hätten von mangelnder Solidarität gezeugt.

Die Grenzschliessungen müssen für Farman dagegen nicht das Ende der offenen Grenzen und des freien Personenverkehrs bedeuten: «Sie sind im Schengen-Abkommen in Notlagen vorgesehen. In der gegenwärtigen Situation scheinen diese Massnahmen verhältnismässig zu sein. Sie können relativ schnell wieder aufgehoben werden.» Die EU sei jetzt auch Blitzableiter für die Regierungen der einzelnen Mitglieder, um davon abzulenken, dass sie selbst nicht auf eine Pandemie vorbereitet waren: «Die Kompetenzen Brüssels in der Gesundheitspolitik sind relativ gering.»

«Härtetest steht der EU noch bevor»

Ob die EU auseinanderfalle oder gestärkt aus der Krise hervorgehen werde, entscheide sich erst in den nächsten Wochen und Monaten, sagt Farman: «Der Härtetest steht der EU noch bevor. Sie muss die Wirtschaftspolitik so koordinieren, dass sie eine tiefe Wirtschaftskrise abwenden kann.» Dies sei schwierig: «In der Pandemie reissen die tiefen Gräben zwischen Nord und Süd wieder auf.»

Das Worst-Case-Szenario wäre für die EU eine lange und schwierige Wirtschaftskrise, so der Experte: «Diese würde den Handlungsspielraum der EU für Reformen sowie das europäische Modell in der Welt dauerhaft schwächen.» Trotz der vielen erwiesenen Unvollkommenheiten bleibe die Union jedoch die beste Lösung der europäischen Staaten, um das Weltgeschehen beeinflussen zu können. Farman geht darum davon aus, dass die EU auch diese Krise überleben werde.

Für die Schweiz habe die Situation nicht nur Nachteile: «Der Druck, das institutionelle Rahmenabkommen möglichst schnell zu unterzeichnen, kam in erster Linie von der EU.» Da diese mit der Pandemie beschäftigt sei, bleibe mindestens ein halbes Jahr länger Zeit, um im Inland eine ernsthafte Debatte über den Rahmenvertrag zu führen.

Zur Person

Zur Person

Darius Farman ist Co-Leiter des Programms Europapolitik beim aussenpolitischen Thinktank foraus.

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