Angesichts westlicher Berichte über einen drohenden russischen Einmarsch in die Ukraine haben Regierungsvertreter in Kiew zur Ruhe aufgerufen. "Wir sehen zum heutigen Tag überhaupt keine Anhaltspunkte für die Behauptung eines großflächigen Angriffs auf unser Land", sagte der Sekretär des nationalen Sicherheitsrats, Olexij Danilow, am Montag vor Journalisten. Die NATO will indes ihre Militärpräsenz in Osteuropa stärken. Die USA versetzen 8.500 Soldaten in erhöhte Bereitschaft.

Für Kiew seien Truppenbewegungen auf russischer Seite im Gegensatz zum Westen keine erstaunliche Angelegenheit. Die ganze Aufregung habe erst mit einem Artikel in der "Washington Post" Mitte Oktober begonnen. Die Lage sei für die Ukraine aber bereits seit 2014 schwierig, sagte Danilow nach einer Sitzung des Gremiums.

Auch Präsident Wolodymyr Selenskyj sah in einer Videosprache keinen Grund zur Aufregung um die Ostukraine. "Alles ist unter Kontrolle. Es gibt keinen Grund zur Panik", betonte er auch mit Blick auf den Abzug von Diplomaten. Kiew strebe eine friedliche Lösung des Konflikts im Donbass an.

Regierungschef Denys Schmyhal sagte: "Es gibt keine Gefahren für die Funktionsfähigkeit unserer Wirtschaft." Die Währungsreserven seien ausreichend, um den Kurs der Landeswährung Hrywnja zu stützen. Allerdings hatten Selenskyj und andere ukrainische Regierungspolitiker in den vergangenen Wochen und Monaten in westlichen Medien durchaus drastische Warnungen vor einer russischen Invasion geäußert.

Wegen der Ukraine-Krise hat die US-Regierung nach Angaben des Verteidigungsministeriums rund 8.500 Soldaten in den Vereinigten Staaten in erhöhte Bereitschaft versetzt. Ministeriumssprecher John Kirby betonte am Montag aber, eine Entscheidung über eine Verlegung dieser Truppen nach Europa sei noch nicht getroffen worden. Die Maßnahmen seien auf Anweisung von US-Präsident Joe Biden und nach Empfehlung von Verteidigungsminister Lloyd Austin erfolgt.

NATO-Verbündete

"So sind sie darauf vorbereitet, auf eine Bandbreite von Eventualitäten zu reagieren, einschließlich der Unterstützung der NATO-Reaktionskräfte, falls diese aktiviert werden", sagte Kirby. Über die Aktivierung dieser "NATO Response Force" (NRF) entscheide die NATO. Kirby sprach im Zusammenhang mit der erhöhten Bereitschaft von einer "Rückversicherung für unsere NATO-Verbündeten".

Die NATO-Mitgliedsstaaten wollen indes angesichts der Spannungen zwischen der Ukraine und Russland ihre Militärpräsenz in Osteuropa stärken. Die Truppen der NATO-Staaten würden in Bereitschaft versetzt und man entsende weitere Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge in den Osten, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg am Montag. Die USA und Großbritannien reduzieren unterdessen ihre Botschaftspräsenz in Kiew.

"Die NATO wird alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um unsere Verbündeten zu schützen und zu verteidigen. Das schließt auch die Verstärkung des östlichen Teils unserer Allianz mit ein", sagte Stoltenberg weiter. Die Ukraine ist kein NATO-Mitglied, aber mehrere ihrer westlichen Nachbarländer sind es.

Die US-Regierung bestätigte Überlegungen zu einer möglichen Aufstockung der US-Truppen in NATO-Bündnisstaaten in Osteuropa. "Wir haben nie ausgeschlossen, den Ländern an der Ostflanke (der NATO) vor einer Invasion zusätzliche Unterstützung und Hilfe zukommen zu lassen", sagte die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, am Montag. Die gemeinsam mit Verbündeten angestellten Überlegungen seien "Teil unserer Planung für Eventualfälle". Psaki verwies auf die Einschätzung von US-Präsident Joe Biden, wonach es jederzeit zu einer militärischen Eskalation durch Russland im Ukraine-Konflikt kommen könne.

Truppenverlegung

Wie ein NATO-Diplomat der Nachrichtenagentur Reuters sagte, erwägen die USA in den kommenden Wochen eine Truppenverlegung von West- nach Osteuropa. Die Verlegungen sollten dabei graduell erfolgen, sagt der Diplomat und bestätigt damit einen entsprechenden Bericht der "New York Times".

Die diplomatischen Anstrengungen um eine Beilegung des Ukraine-Konflikts werden am Mittwoch im Normandie-Format fortgesetzt. Geplant sei ein Treffen Frankreichs, Deutschlands, der Ukraine und Russlands auf Ebene politischer Berater, hieß es am Montag aus dem Pariser Elysée-Palast. Das bisher letzte Gipfeltreffen im Normandie-Format hatte 2019 stattgefunden.

Eskalationskurs

Russland warf den USA und der NATO im Ukraine-Konflikt einen gefährlichen Eskalationskurs vor. Nicht Russland sei der Ursprung der Spannungen, sondern die "Hysterie" der USA und der NATO, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Montag. Die Mitteilung des Militärbündnisses zur Verlegung von Truppen an die Ostflanke "führt dazu, dass die Spannung wächst", sagte Peskow der Agentur Interfax zufolge.

In diesem Zusammenhang warnte der Kreml vor einer wachsenden Gefahr eines Überfalls von ukrainischer Seite auf die von prorussischen Separatisten kontrollierten Teile der Regionen Luhansk und Donezk in der Ostukraine. Die Ukraine sei gerade dabei, ihre Truppen und Ausrüstung in sehr hoher Zahl entlang der Linie zu den selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk zu konzentrieren.

Hitzköpfe

"Der Charakter dieser Konzentration deutet auf die Vorbereitung eines Angriffs hin. Und tatsächlich ist diese Gefahr jetzt sehr groß", sagte der Kreml-Sprecher. Die "Hitzköpfe" in der Ukraine würden aktuell durch Waffenlieferungen ermuntert in ihrem Ziel, sich die abtrünnigen Gebiete zurückzuholen. Moskau würde es nach Darstellung Peskows begrüßen, wenn die NATO die Stimmung nicht weiter aufheizen, sondern Kiew von einer gewaltsamen Lösung des Konflikts abraten würde.

Mit einem eindringlichen Appell warnte unterdessen der britische Premier Boris Johnson den russischen Präsidenten Wladimir Putin vor einem Einmarsch in die Ukraine. "Wir müssen es dem Kreml, Russland, sehr klar machen, dass es ein desaströser Schritt wäre", sagte Johnson am Montag.

Der lettische Außenminister Edgars Rinkevics drang auf noch eine stärkere NATO-Präsenz in Osteuropa. "Wir erreichen den Punkt, an dem die kontinuierliche militärische Aufrüstung Russlands und Belarus' in Europa durch geeignete NATO-Gegenmaßnahmen angegangen werden muss. Es ist an der Zeit, die Präsenz der alliierten Streitkräfte an der Ostflanke des Bündnisses als Maßnahme sowohl zur Verteidigung als auch Abschreckung zu erhöhen", schrieb Rinkevics am Montag auf Twitter.

Ausreisen laufen an

Währenddessen ziehen Washington und London nicht unmittelbar benötigte Beschäftigte aus Kiew ab. Angehörige von Diplomaten seien zudem zur Ausreise verpflichtet worden, teilten die Außenministerien mit. Es handle sich bei den Maßnahmen die US-Botschaft betreffend um "Vorsichtsmaßnahmen", sagte eine hochrangige Beamtin des US-Außenministeriums. Auf die Frage, warum diese Entscheidung ausgerechnet jetzt getroffen worden sei, verwies das Ministerium auf die Warnung des Weißen Hauses aus der vergangenen Woche, wonach es jederzeit zu einem Einmarsch Russlands in die Ukraine kommen könne.

Die Europäische Union sieht im Gegensatz dazu derzeit keinen Grund dafür, Botschaftspersonal und Familienangehörige von Diplomaten zur Ausreise aus der Ukraine aufzufordern. "Ich denke, nicht, dass wir dramatisieren müssen", sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Montag am Rande eines EU-Außenministertreffens in Brüssel. Solange noch Verhandlungen mit Russland liefen, glaube er nicht, dass man die Ukraine verlassen müsse.

Die australische Regierung hat wegen der zunehmenden Spannungen zwischen Russland und der Ukraine alle Staatsbürger aufgefordert, umgehend die Ukraine zu verlassen. Die Reisewarnung für das Land wurde am Montag "wegen der Gefahr eines bewaffneten Konflikts" auf die höchste Stufe "Do not travel" ("Reisen Sie nicht") heraufgesetzt.

Die Ukraine bezeichnete die Reduzierung des US-Botschaftspersonals in Kiew als "übertriebene Vorsicht". "Wir halten einen solchen Schritt der amerikanischen Seite für verfrüht", teilte das Außenministerium am Montag in der Hauptstadt Kiew mit. Die Sicherheitslage habe sich "nicht grundlegend verändert".

Auf die Frage, ob die USA US-Soldaten in die Ukraine im Falle einer Invasion schicken würden, hatte US-Außenminister Antony Blinken am Sonntag ausweichend reagiert. Die NATO selbst werde weiterhin in erheblichem Maße gestärkt werden, falls Russland erneute Aggressionen verübe, sagte er. US-Präsident Joe Biden hatte eine Entsendung von US-Soldaten in die Ukraine zuvor ausgeschlossen. Die USA unterstützen die Ukraine mit militärischem Material. Aktuell sind dem Pentagon zufolge weniger als 200 Militärs der Nationalgarde von Florida in der Ukraine im Einsatz.

Angesichts eines massiven russischen Truppenaufmarsches in der Nähe der Ukraine wird im Westen befürchtet, dass der Kreml einen Einmarsch in das Nachbarland planen könnte. Für möglich wird allerdings auch gehalten, dass nur Ängste geschürt werden sollen, um die NATO-Staaten zu Zugeständnissen bei Forderungen nach neuen Sicherheitsgarantien zu bewegen. Erklärtes Ziel Russlands ist es etwa, dass die NATO auf eine weitere Osterweiterung verzichtet und ihre Streitkräfte aus östlichen Bündnisstaaten abzieht. Die NATO, aber auch die EU lehnen diese Forderungen als inakzeptabel ab.

Das sogenannte Normandie-Format aus Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine wird nach Angaben aus diplomatischen Kreisen am Mittwoch zu Beratungen zusammenkommen. Das Treffen werde in Paris und auf Ebene der politischen Direktoren stattfinden, verlautet aus der russischen Delegation. Deutschland und Frankreich vermittelten bereits das Minsker Abkommen zwischen Russland und der Ukraine 2015, das die Ostukraine befrieden soll.

Russland begann am Montag indes mit einem angekündigten Marine-Manöver, wie die Nachrichtenagentur RIA berichtete. 20 Kriegsschiffe der russischen Ostsee-Flotte seien dafür in See gestochen.