„Hätten sie Nazis erlebt, würden sie so nie reden“

Erstellt am 14. Jänner 2022 | 03:23
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„Diktatur“ und „Neue Juden“: Bei Demonstrationen und in Sozialen Medien werden häufig Vergleiche zwischen der aktuellen Situation und der Lage der Juden in den 30er- und 40er-Jahren gezogen.
Foto: APA/Wieser
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Ungeimpfte bezeichnen sich als die neuen Juden, FPÖ-Chef sieht Parallelen der Covid-Maßnahmen zur NS-Zeit. Für den St. Pöltner Hans Morgenstern, der mit seinen Eltern vor den Nazis fliehen musste, sind derartige Vergleiche „Verharmlosung“.

Menschen tragen bei Demos Armbinden mit dem „Judenstern“ und der Aufschrift „ungeimpft“. Andere warnen vor der „Corona-Diktatur“. In Sozialen Medien werden Foto-Montagen geteilt, die das Tor zum Konzentrationslager Auschwitz mit der Aufschrift „Impfen macht frei“ zeigen. Vergleiche der Corona-Zeit mit jener des Nationalsozialismus sind keine Seltenheit. Sie suggerieren, dass Menschen, die Covid-Maßnahmen ablehnen und dadurch von Teilen des öffentlichen Lebens ausgenommen sind, sich in einer ähnlichen Situation befinden, wie früher Juden.

Dem FPÖ-Chef Herbert Kickl brachte ein solcher nun eine Anzeige wegen Verdachts auf Wiederbetätigung ein. Er meinte in einem ZIB2-Interview, dass der Nationalsozialismus mit der Ausgrenzung jüdischer Kinder in der Schule begonnen habe. Die Jüdischen Hochschüler:innen, die die Anzeige mit zwei anderen Organisationen einbrachten, werten das als Vergleich zu den Testmaßnahmen in Schulen.

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Hans Morgenstern (rechts) ist der letzte in St. Pölten lebende Jude. Wie die Historikerin Martha Keil (links) hat er kein Verständnis für Vergleiche der Corona-Pandemie mit dem Nationalsozialismus.
Foto: Archiv/Lisa Röhrer

 

„An den Haaren herbeigezogen“, sind derartige Gegenüberstellungen für den letzten Angehörigen der einst rund 450 Menschen zählenden jüdischen Gemeinde St. Pöltens, Hans Morgenstern. Der heute 84-Jährige, der als Kleinkind mit seiner Familie von St. Pölten nach Palästina fliehen musste, spürt keine Parallelen zur NS-Zeit. „Die Vergleiche stören mich. Sie sind eine Verharmlosung dessen, was damals passiert ist. Hätten diese Menschen die Nazis erlebt, würden sie nie so reden.“

65.000 Juden wurden von Nazis ermordet

Genauso ordnet die Historikerin und Leiterin des Instituts für Jüdische Geschichte Österreichs, Martha Keil, die Aussagen ein. Der Vergleich hinkt für sie schon aufgrund der Ausgangslage: „In der NS-Zeit konnten sich Menschen nicht aussuchen, ob sie jüdisch sein wollten. Wenn sie durch die Rassengesetze so bezeichnet wurden, mussten sie jeden Tag fürchten, ermordet zu werden.“

Heute hat jeder die Wahl, sich impfen zu lassen. Die Maßnahmen wurden zudem von demokratisch gewählten Politikern gesetzt. Jene, die damit nicht einverstanden sind, können das offen äußern. „In einer Diktatur könnte niemand demonstrieren“, meint Keil. Menschen, die derartige Vergleiche ziehen, missbrauchen aus ihrer Sicht den Holocaust dafür, einen eigenen Opferstatus zu konstruieren.

„Ein solcher Vergleich ist völlig unangemessen und verhöhnt die Opfer!“, sagt die Historikerin. Wer den Spruch ‚Impfen macht frei‘ verbreite, habe keine Ahnung, was in einem Konzentrationslager geschehen ist. „Dort wurden Menschen vernichtet“, verdeutlicht Keil. Bis heute sind fast 65.000 Namen von österreichischen Juden bekannt, die Opfer der Nazis wurden. Am 27. Jänner wird ihrer wieder gedacht.

Spricht man selbst mit Menschen, die sich als die neuen Juden bezeichnen oder behaupten, in einer Diktatur zu leben, empfiehlt Keil, diese Daten zu nennen und die Dimension der NS-Verbrechen aufzuzeigen. Hans Morgenstern hat zwar selbst keine Erinnerungen an die Flucht nach Palästina. „Ich war erst eineinhalb Jahre alt.“ Aber er hat die Gräueltaten in seinem engsten Umfeld gespürt: „Meine Großeltern, Tanten und Onkel wurden ermordet“, berichtet der spätere Hautarzt. Die Nazis hätten das „aus reiner Bösartigkeit“ getan. Corona sei eine Krankheit und höhere Gewalt“. Maßnahmen wie die Impfpflicht, die Morgenstern begrüßt, sollen Menschen vor dem Virus schützen.

Gröbliche Verharmlosung ist Straftatbestand

Nach der Kickl-Aussage entfachte eine Debatte darüber, ab wann derartige Vergleiche strafbar sind. Der Staatsschutz behält Menschen, die sie tätigen jedenfalls im Auge, wenn sie in Verdacht stehen, gegen das Verbotsgesetz zu verstoßen. Das beinhaltet das Leugnen, Verharmlosen, Gutheißen oder Rechtfertigen des Völkermords oder anderer NS-Verbrechen.

„Meines Erachtens ist eine Prüfung im Einzelfall vorzunehmen, bei welcher insbesondere die konkrete Wortmeldung und Intention des Täters sowie sein sonstiges Verhalten einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen ist. Dabei besteht naturgemäß ein gewisses Spannungsfeld zur Meinungsäußerungsfreiheit und deren Grenzen“, sagt die Anwältin Margit Buchegger.

Eine gröbliche Verharmlosung der Judenverfolgung oder eine Betätigung im nationalsozialistischen Sinn sei definitiv ein Tatstrafbestand nach Verbotsgesetz. „Letztendlich bleibt die Entscheidung den ordentlichen Gerichten vorbehalten“, sagt Buchegger.