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Stürmische Zeiten als Symptom der Neuordnung

Von Simon Rosner

Politik
Das Parlament wird derzeit nicht nur physisch umgebaut.
© Parlamentsdirektion / Johannes Zinner

Demokratieforscherin Tamara Ehs über Hintergründe und Auswege zur scheinbar chaotischen Lage in der Republik.


"Wiener Zeitung": Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat neulich gesagt, dass Österreich eine Regierungskrise, aber keine Staatskrise hätte. Aber nach fünf Regierungen in fünf Jahren: Ist es wirklich nur eine Regierungskrise?

Tamara Ehs: Wir erleben seit der Bundespräsidentschaftswahl 2016 so viele erste Male wie in 50 Jahren davor nicht: die erste bundesweite Wahlwiederholung, die erste Abwahl eines Kanzlers, die erste Expertenregierung. Ich verstehe, dass das als krisenhaft erlebt wird. Es ist dennoch keine Staatskrise. Rechtlich ist für alles vorgesehen. Die Verfassung wird eben jetzt oft zum ersten Mal so angewendet, wie es auch möglich ist, als nur in den engen Grenzen, in denen man bisher Parlamentarismus gelebt hat. Wir sehen eine Instabilität der Regierungsarbeit, die auch Folge davon ist, dass in Österreich die parlamentarische Arbeit traditionell endet, wenn eine Regierung nicht mehr weiterarbeiten möchte. Das ist aber weder rechtlich noch politisch zwingend, sondern ein österreichisches Spezifikum. In anderen Ländern gibt es Regierungswechsel auf Basis anderer Mehrheiten oder gar Minderheitsregierungen. In Österreich wurde das jetzt mit dem Argument, das sei noch instabiler, sofort verworfen.

Ist es auch deshalb ein österreichisches Spezifikum, weil wir verfassungsrechtlich ein bisschen schlampige Verhältnisse haben und das eigentlich gesetzgebende Organ, das Parlament, oftmals Regierungshandeln einfach abnickt?

Vom Parlament geht wenig Alternativmacht aus. Es müsste nicht auf Ministerialentwürfe warten, sondern könnte selbst einige große Punkte vereinbaren, die man abarbeiten will. Es gibt aber kein eigenes Arbeitsprogramm des Nationalrats, und so wird er als nachgeordnete Institution wahrgenommen, in der nur pro forma diskutiert wird. So ist es aber nicht vorgesehen. Es ist eine Umkehrung der Verfassung.

Aber auch in Deutschland dominiert die Bundesregierung.

Ja, aber der Deutsche Bundestag ist deutlich besser ausgestattet. Es gibt einen großen Legislativ- und wissenschaftlichen Dienst, bei dem sich Abgeordnete parteiunabhängig Expertise holen können. Das österreichische Parlament hat dagegen erst seit kurzem einen eigenen Budgetdienst, damit der Nationalrat überhaupt seine Hoheitsaufgabe der Budgetkontrolle tatsächlich ausüben kann. Das Parlament ist unterausgestattet, vor allem im Vergleich zu Deutschland und Skandinavien, wo die Parlamente selbständiger arbeiten können.

Es ist sehr ungewöhnlich, dass der Parteichef einer Regierungspartei Klubchef und nicht Kanzler oder Minister ist. Aber ist dieses Modell eigentlich nicht näher am Geist der Verfassung? Der Kanzler ist für ganz Österreich zuständig, der Parteichef für seine Partei und kontrolliert aus der Position des Klubchefs heraus das Wirken der Regierung.

Im Prinzip ist das auch ein sinnvolles System. Es hat sich nur im Laufe der Zweiten Republik, vor allem durch die übergroßen Koalitionen, die bis in die 1990er-Jahre mit Verfassungsmehrheit regiert haben, so entwickelt, dass das Parlament die ihm zugeordnete Rolle lange nicht ausfüllen konnte. Das kann es erst allmählich, seit die ehemaligen Großparteien gemeinsam nur mehr knapp 50 Prozent auf sich vereinen. Seither merkt man, dass dieses System eigentlich ganz anders aufgebaut ist und auch die Opposition mittlerweile mehr Rechte hat wie die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Plötzlich muss man mit einer anderen Realverfassung umgehen, und das scheint noch gewöhnungsbedürftig zu sein. Man könnte es als krisenhaft bezeichnen - oder als Übergangszeit. Es ist ja nicht so lange her, dass wir bloß ein Zweieinhalb-Parteien-System hatten.

Vergleicht man die Klubs der Regierungsparteien, ist der grüne Klub bisher autarker aufgetreten, sowohl nach außen im U-Ausschuss, aber auch nach innen, in dem er Druck auf den Vizekanzler gemacht hat. Offenbar auch im Vorfeld des Kanzlerrücktritts. Könnte man die Konstruktion mit Kurz als Klubchef nicht auch so sehen, dass nun auch die andere Seite stärker auf die Regierung einwirken kann, als es bisher in der hierarchisch geprägten ÖVP der Fall war. Anders gefragt: Muss ein starker ÖVP-Klubchef so negativ sein, wie es teilweise kommentiert wird?

Diese Zweiteilung ist schon spannend, wenn der Parteichef Fraktionsvorsitzender und nicht Kanzler ist, weil man der Verfassung und auch der Geschäftsordnung des Nationalrats jetzt beim Arbeiten zuschauen kann. Was aber negativ gesehen wird, ist, dass die ÖVP selbst wenig innerparteiliche Demokratie hat, auch durch die Statutenreform, die sich Kurz 2017 ausbedungen hat, um die ÖVP zu übernehmen. Wir sehen hier daher ein Machtmonopol. Denn im österreichischen Parteiengesetz fehlt, gerade etwa im Vergleich mit dem deutschen Gesetz, dass Parteien auch nach innen demokratischen Grundsätzen entsprechen müssen. Das gibt es in Österreich nicht. Darin zeigen sich die Unterschiede, wie Werner Kogler seine Partei führen kann und wie Sebastian Kurz.

Tamara Ehs ist Politikwissenschafterin, Demokratieberaterin (v.a. für Städte und Gemeinden) sowie politische Bildnerin. Aktuell untersucht sie an der Sigmund Freud Universität Wien die Auswirkungen der Coronakrise auf Demokratie und Menschenrechte. Für ihre Arbeit wurde sie unter anderem mit dem Wissenschaftspreis des Parlaments ausgezeichnet. Ehs

Seit der U-Ausschuss ein Minderheitenrecht ist, prägt er die parlamentarische Debatte stärker als früher. Einerseits wird die Kontrollfunktion der Opposition dadurch aufgewertet, andererseits dreht sich die Debatte dann mehr um U-Ausschüsse und mutmaßliche Skandale und weniger um sachpolitische Themen wie Klimaschutz, Pflege, Migration und so weiter. Beschäftigt sich die Politik zu sehr mit sich selbst?

Wir sehen bei Umfragen, dass es eine Kritik an der Selbstbeschäftigung der Parteien gibt. Und wir sehen auch, wie wenig vom Regierungsprogramm durch die Pandemie bisher bearbeitet werden konnte. Aufgabe der Opposition ist es natürlich, auf Probleme hinzuweisen. Aber das Parlament hat ja zwei Aufgaben, einerseits die Kontrollfunktion, andererseits die Alternativfunktion. Letztere ist im österreichischen Parlament nicht ausgeprägt. Es würde aber die demokratiepolitische Kultur insgesamt befördern.

Ich bin überzeugt: Die Parteien würden antworten, wir tun das eh, aber die Medien berichten nicht darüber. Und teilweise haben sie auch recht.

Darum müsste man es institutionalisieren wie etwa mit einem Jahresprogramm des Nationalrats. Einmal im Quartal muss eine Nationalratssitzung nur diesem Programm gewidmet sein. Wenn es nicht institutionalisiert ist, ist es für die Parteien mit Sachthemen schwierig und sie landen in der Aufmerksamkeitsfalle. Mit dem Hinweis auf einen Skandal bekommt man die Schlagzeile, mit einem Konzept für den sozialen Wohnbau nicht.

Der neue Kanzler Alexander Schallenberg hat sich unlängst dem Parlament erstmals vorgestellt. Das ist fast eskaliert. Von seiner Seite gab es Kritik in Richtung Opposition und eine Aktenweglegung, von der anderen Seite gleich heftige Angriffe und keine Schonfrist für den neuen Kanzler. Wie soll in so einer Atmosphäre der Staat, gelenkt von der Politik, funktionieren?

Was wir sehen, ist, wie die Institutionen zusammenwirken. Demokratie lebt nicht nur von Wahlen und dem Parlament allein, sondern auch von Verwaltung und Justiz. Und man sieht, dass die Institutionen halten, auch wenn es holprig wird. Etwa, wenn der Finanzminister erst vom Bundespräsidenten und dem Verfassungsgerichtshof erinnert werden muss, "Amtshilfe" zu leisten. Am Ende sieht man aber, dass es funktioniert. Woran es aber mangelt, ist ein friktionsfreies Zusammenarbeiten; in dem Sinn, dass nicht für das Gemeinwohl gearbeitet wird, sondern im Sinne des Parteiwohls. Dass die Opposition so agiert, ist klar und auch ihre Rolle. Neu ist, dass eine Regierungspartei ihren Partikularinteressen als Partei folgt und sich wie eine Oppositionspartei benimmt. Das gilt auch für Kanzler Schallenberg, wenn er öffentlich sagt, dass er die Vorwürfe gegen Kurz für falsch hält. Diese Parteinahme ist für das Amt eines Kanzlers demokratiepolitisch nicht in Ordnung.

Bedingt das nicht eine demokratiepolitische Asynchronität, wenn man der Opposition das Recht zuspricht, die Regierung anzugreifen, aber die Regierung darf es umgekehrt nicht tun?

Die Regierung hat aber auch mehr Macht und ist auch für das Ansehen im Ausland verantwortlich. Es gibt also ein Machtungleichgewicht, aus dem sich heraus auch ein Ungleichgewicht in der Verantwortung ergibt. Und diese liegt bei der Regierung viel höher, daher kann sie eben nicht nur auf das Parteiwohl, sondern muss mehr auf das Gemeinwohl achten. Und deshalb geht es eben nicht, dass die ÖVP als Regierungspartei, und quasi aus dem Playbook eines Donald Trump, Attacken gegen die Justiz reitet und damit das Vertrauen in die Institutionen beschädigt.

Diese vergiftete Atmosphäre ist nicht über Nacht passiert. Und beide Seiten werfen der jeweils anderen vor, die politische Debatte zu zerstören.

Durch Polarisierung und Emotionalisierung lässt sich auch mobilisieren. Politikwissenschaftlich ist wenig dagegen einzuwenden, wenn das in Zeiten eines Wahlkampfes passiert. Es ist klar, dass da überspitzt wird. Was wir aber sehen, ist ein Dauerwahlkampf und damit eine Daueremotionalisierung. Gerade bei Sebastian Kurz war auffällig, dass er ausschließlich auf Themen gesetzt hat, die emotionalisieren. Dadurch mobilisiert man zwar, aber auf Basis einer gesellschaftlichen Spaltung. Es gab bei der türkisen ÖVP schon quasi-religiöse Veranstaltungen, und man hat nicht mehr nur Wählerinnen und Wähler, sondern Fans. Diese Polarisierung bedingt dann, dass Parteien einander zunehmend unversöhnlich gegenüberstehen, und zwar über den Wahlkampf hinaus. Aber das Wesen der Demokratie ist der Kompromiss.

Ein weiterer Aspekt, den wir in vielen Teilen Europas sehen: die politische Landschaft wird bunter. Das ist per se noch nicht schlecht, aber in unserem System der repräsentativen Demokratie macht es die Mehrheitsbildung schwieriger. Gleichzeitig wird dadurch auch der Wettbewerb um jede Stimme härter, was wiederum die Zusammenarbeit erschwert. Ist das - weitergedacht - nicht eine Ingredienz eines manifesten Dilemmas?

In Österreich gibt es Mechanismen, damit die Mehrheitsfindung nicht zu schwer ist, wie etwa die Vier-Prozent-Hürde bei Nationalratswahlen. Der Verfassungsgerichtshof hat diese Schwelle mehrfach mit dem Argument bestätigt, dass es der leichteren Regierungsbildung dient, wenn das Parlament nicht zu stark in viele Teile fraktioniert ist. Der härtere Wettbewerb der Parteien bedingt aber auch einen Wettbewerb um Aufmerksamkeit und verleitet zu Tabubrüchen. Das war bei der FPÖ in den 1990ern unter Jörg Haider zu beobachten. Bei der ÖVP gibt es nun sogar den Verdacht von mutmaßlich manipulierten Meinungsumfragen. Auch das ist ein klarer Eingriff in den Wettbewerb, aber ein unredlicher und vielleicht strafrechtlich relevanter. Darum sollte man auch gar nicht unmittelbar in Neuwahlen gehen.

Warum nicht konkret?

Ich hielte es für demokratiepolitisch unverantwortlich in einer Phase, wenn ein Misstrauen in Institutionen besteht, wenn unsicher ist, welchen Umfragen man eigentlich noch glauben kann. Das sind ja auch Eingriffe in die Wahlfreiheit der Bevölkerung. Solange das nicht aufgearbeitet ist, wären Wahlen verzerrt. Zuerst sind ein Antikorruptionsgesetz, eine neue Medienförderung und ein Informationsfreiheitsgesetz nötig. Dem sollte man sich jetzt ein halbes Jahr prioritär widmen. Danach kann man sagen: Jetzt ist das Land bereit für einen Neustart, wir haben eine Grundlage geschaffen, dass wir eine wirklich freie Wahl gewährleisten können. Und die freie Wahl ist in einer Demokratie das höchste Gut.

In den vergangenen Jahren gab es einige fundamentale Krisen. In der Finanzkrise war die staatliche Bankenrettung sehr umstritten, bei der Fluchtkrise gab es sogar den Vorwurf des Staatsversagens, und bei der Covidkrise formierten sich zwei Gruppen: Der einen war die Politik zu schwach, der anderen sind die staatlichen Eingriffe zu stark. Verlierer scheint, da wie dort, das Staatsvertrauen, das aber für die Demokratie wichtig ist.

In Krisen erhält man Einblicke in den Maschinenraum des Staates. Der arbeitet zwar immer, aber in Krisen spüren wir ihn besonders. Wir registrieren seit Jahren ein schwindendes Vertrauen in die Institutionen, vor allem wegen mangelnder Transparenz der Entscheidungsgrundlagen. Das hat auch mit einer internationalen und europäischen Einbettung zu tun, da Entscheidungen weniger nachvollziehbar sind als in jenen Phasen der Zweiten Republik, in denen primär der Nationalrat alles beschlossen hat. Auf einmal haben wir viele Entscheidungen, die nicht mehr auf nationalstaatlicher Ebene, sondern etwa vom Europäischen Rat getroffenen werden, der aber hinter verschlossen Türen tagt. Dazu kommen Institutionen, die nur über Umwege demokratisch legitimiert sind, wie zum Beispiel die Europäische Zentralbank, die aber immens wichtige Entscheidungen trifft. Ich glaube, dass das viel zu dieser Skepsis beiträgt. Der erste Adressat ist nach wie vor die nationalstaatliche Politik, obwohl diese in vielen Bereichen im supranationalen System nicht allein souverän ist.

Macht es das nicht noch schwieriger für die nationale Politik, wenn die Ansprüche zwar ihr gegenüber formuliert werden, ihr Handlungskreis aber eingeengt ist? Beim Brexit hat das ja eine zentrale Rolle gespielt, und aktuell sehen wir in Polen, wie die Regierung versucht, Entscheidungsmacht zurückzuerlangen, in dem sie nationales Recht über europäisches stellen will.

Uns fehlt halt auch eine Demokratisierung der europäischen Institutionen und auch der internationalen Beziehungen. Der einzelne Nationalstaat kann gar nicht mehr so viel ausrichten. Und wenn, dann oft nur als Bremser und Verhinderer. Aber das wird ja auch der ÖVP vorgeworfen, dass genau das ihre EU-Politik sei. Damit lassen sich aber eben auch Stimmen gewinnen, egal ob in Polen oder Österreich.

Bei Emmanuel Macron war es aber anders. Er hat damals mit einem dezidiert pro-europäischen Programm die Wahlen gewonnen. Und noch dazu im sehr nationalstaatlich geprägten Frankreich.

Ja, es ist schon anders auch möglich. Wenn es nur einer macht, ist vielleicht einmal auch damit eine Wahl zu gewinnen. Aber Macron wurde dann ja auch im Regen stehen gelassen. Angela Merkel und andere sind damals nicht auf den Zug der europäischen Demokratisierung aufgesprungen.

Die Politik kennt nicht nur die ganz große Bühne, sondern auch die kleine, den Gemeinderat. Auf kommunale Ebene sind derartige Verwerfungen, wie wir sie etwa in der Bundespolitik sehen, interessanterweise selten zu vernehmen. Verdient diese Ebene demokratiepolitisch größere Beachtung?

Ich bin oft in Kommunen unterwegs, um Gemeinden zu Partizipationsprozessen zu beraten. Und da funktioniert die Zusammenarbeit tatsächlich anders. Vermutlich auch, weil man einander nicht nur im politischen Kontext, sondern auch privat begegnet. Der Nationalrat hat auch versucht, sich eine Art Verhaltenskodex zu geben, weil er das Problem selbst erkannt hat. Nach den Wahlen 2013 haben sich außerdem aus allen Parteien junge Abgeordneten zusammengetan, um mit einem Gesprächskreis zu versuchen, eine neue Basis aufzubauen. Es gibt immer wieder solche Versuche. Die Gemeindeebene ist jene, die am nächsten an Bürgerinnen und Bürgern dran ist und sich mehr verantworten muss. Die Verantwortung von Nationalratsabgeordneten ist nicht so unmittelbar lebbar.

Wäre die Absolvierung einer vollen Legislaturperiode, auch wenn das in der aktuellen Situation sicher schwierig ist, nicht auch ein Punkt, Vertrauen zurückzugewinnen?

Ja, das wäre nicht schlecht. Seit die Legislaturperiode fünf Jahre beträgt, wurde sie erst einmal ausgeschöpft. Und die eigentliche Idee dieser längeren Periode war ja, länger Zeit zu haben, ordentlich zu arbeiten. Das wird aber überhaupt nicht eingelöst. Und dabei ist die längere Legislaturperiode nicht unproblematisch, weil es eigentlich ein demokratiepolitischer Rückschritt war, weil man, auf Lebenszeit gemessen, seltener wählen kann.