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Schausteller auf Abruf

Von Manfred Rebhandl

Reflexionen
Im Lockdown ausgebremst: Details aus einem Kinderkarussell.
© Rebhandl

Corona setzt Kleinunternehmern wie Alfred und Soraya Winkler zu. Ihre Karusselle harren neuer Einsätze.


Alfred Winkler ist ein überaus freundlicher Herr, also holt er mich am Bahnhof ab und fährt mich die paar Hundert Meter zu seinem Winterquartier in Göpfing. Während der Fahrt telefoniert der Schausteller noch wegen des Leopoldikirtags in Klosterneuburg, traditionell ist er dort mit Karussell oder Riesenrad vertreten, und heuer soll es ja endlich wieder so weit sein.

Die Zeit des Wartens während der Lockdowns hat er auf seinem großen Besitz mit Wohnhaus und Lagerhallen verbracht, das Wohnhaus hat er in dieser Zeit schönbrunnergelb angestrichen. "Wie wüllst ein altes Gebäude sonst streichen?", lacht er. Vor 40 Jahren hat der heute 65-Jährige just am Leopoldifest im Stift Klosterneuburg seine Soraya geheiratet, nach der Hochzeit blieben sie hier im tiefsten Waldviertel, und er kaufte die Immobilie. Im Jänner darauf machte er sich selbstständig. Winklers Vater entstammte einer reisenden komödiantischen Familie, "die sind über Generationen im Winter in die Gasthäuser gegangen und haben Theater gespielt, wenn sie kein Geld hatten".

Anfang mit Ponys

Der Vater hat den Schaustellerbetrieb aufgebaut und den Buben schon mit 12 Jahren zum Arbeiten eingeteilt, angefangen haben sie mit Ponys. Sohn Alfred führt mich nach hinten zur Koppel, wo noch zwei Rotschecken in der Sonne des herrlichen Spätsommertages stehen, jeden Morgen kommen Nachbarn und bringen ihnen Karotten - "aber die guten!" - und staubfreies Heu. Früher hatte er 30 von denen fürs Ponyreiten und war mit ihnen in ganz Österreich unterwegs, aber nur die beiden hat er behalten. Die übrigen Pferde hat er im ganzen Land "an guten Plätzen untergebracht, da oben der Herr Mayerhofer bei Zwettl mit seiner Dampfbahn und dem Streichelzoo, der hat acht Stück von mir gekriegt".

Alfred Winklers Rotschecken.
© Rebhandl

Früher waren sie mit den Pferden an 18 Plätzen im Jahr vertreten, vom Urfahranermarkt über die Salzburger Dult zur Grazer Messe, überstellt wurde in klimatisierten Anhängern. Die Tiere gingen drei Minuten oder sechs Runden im Kreis, vier Euro die Fahrt, alle zwei Stunden wurden sie gewechselt, 80 Tage im Jahr. Den Rest der Zeit lebten sie wie im Paradies hier auf seiner Koppel. Alle Auflagen wurden erfüllt, und die Kinder erkannten jedes Tier: "Das Pony war letztes Jahr noch nicht da!" Wenn man so etwas macht, sagt Winkler, dann wäre das auch eine Art Lebenserfüllung.

Dann kamen die Tierschützer und sagten: "Die armen Ponys müssen im Kreis gehen!" - "Aber schau’n S’", entgegnet Winkler. "Die meisten Ponys werden 20 Jahre alt, und meine sind schon 36." Die Winklers hätten nicht aufhören müssen, "aber irgendwann will man sich nicht mehr rechtfertigen müssen, das zermürbt".

Als sie sich vor fünf Jahren das letzte Mal vom Urfahranermarkt verabschiedeten, haben sich dort zwei Tierschützer aufgeregt, aber 150 Leute haben protestiert, weil die Kinder sich so auf das Reiten gefreut haben. "Wo sehen die Kleinen heute noch lebende Tiere?", fragt Winkler. 35 Jahre seines Lebens hat er mit den Pferden verbracht, 16 bis 18 Stunden am Tag, in der Früh war er der Erste im Stall, am Abend der Letzte. "Wenn wir heimgekommen sind von irgendwo, hab ich nur gepfiffen, und sie waren da. Dann hab ich gewusst: Ich bin daheim."

Von Ort zu Ort

Das "Daheim" hat einen anderen Wert, wenn man jedes Jahr von März bis Dezember auf Tournee ist. Früher wohnten sie dabei in Runddachwägen, heute in einem mächtigen, zwölf Meter langen Holiday Rambler, der alle Stückeln spielt: "Hear’n S’, wenn’s dauernd drin san, können S’ nicht in einem Vogelhäuserl wohnen!", lacht er wieder. In Italien oder Deutschland, erzählt er, würden viele Schausteller ausschließlich in ihren Wohnwägen leben, die hätten gar kein Zuhause. "Der kauft sich um 500.000 ein Riesentrumm, und bleibt darin."

Der ständige - meist wöchentliche - Wechsel, das Reisen von Ort zu Ort, von Kirtag zu Volksfest, von Rummel zu Weihnachtsmarkt, das gefällt ihm. Die Frage ist dann jeweils nur: "Habe ich eine schwere Konkurrenz neben mir stehen oder eine leichte? Oft ist es schwierig, oft weniger, oft willst du einen, oft nicht. Den, der fleißig ist, den willst du nicht neben dir, den Deppen schon", lacht er. Aber nach einer Woche ist er eben wieder an einem anderen Ort, "wohingegen wenn ich ein Elektrogeschäft habe und gegenüber eine lästige Konkurrenz, dann hab’ ich die 30 Jahre!" Ein Problem wäre halt, dass vor allem große Messen ihre Plätze zunehmend mit Druck vergeben. "Kriegen die kein großes Karussell, dann stellen sie halt statt fünf zehn Kinderkarusselle auf."

Von denen hat er selbst 17 oder 18 auf seinem Gelände abfahrbereit herumstehen, dazu Wasserburgen und ein Kindertagada mit Bällen. "Außerdem war ich so ziemlich einer der ersten, der mit Trampolinen auf Reise ging", sagt er. Winkler und seine Frau lassen sich Weihnachtsdekorationen einfallen, Erntefestdekorationen, für das Kürbisfest in Geras Halloweendekorationen, zu Ostern den größten Osterhasen. Er hat eine Luftrutsche in Gestalt eines 15 Meter hohen "Hahntierls" (Hahngetiers), das er sich in der Nähe von Padua in Italien von einem Spanier, der dort Gockelhähne züchtet, fertigen ließ. "Du musst mir einen Hahntierl-Schrei einbauen!", war Winklers Auftrag, und in Altmünster beim traditionellen Kirtag wissen die Kinder nun, dass der Kirtag begonnen hat, sobald Winklers Hahntierl schreit.

Nostalgie-Riesenrad

Schausteller, sagt er, sind in Deutschland anerkannte Industriebetriebe, "die haben dort einen viel höheren Stellenwert als hier: Stuttgarter Wasen mit 5 Millionen, Münchner Wies’n mit 6 Millionen. Bei uns kommen in Linz 400.000 Besucher, da leben die Taxifahrer, die Bäcker, die Fleischhauer. Oder in Wien sind November und Dezember die stärksten Monate für den Tourismus." Zu Weihnachten gebe es dort 40 bis 50 kleine Weihnachtsmärkte und 15 große. Trotzdem wäre es schwierig, einen Platz zu kriegen, wenn man nur ein Karussell hätte, da sagen sie: Wir haben eh schon sieben Anbieter.

Über 100 Jahre alt: Nostalgiekarussell, das 50 Jahre durch Kärnten reiste.
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Mit seinem alten Sport-Kinderkarussell mit sechs Metern Durchmesser und einem Bugatti drauf, für den ihm einmal einer 8.000 Euro geboten hat, käme er überall unter, sagt Winkler. "Das ist der Rolls Royce unter den Kinderkarussellen, davon gab es nur sechs Stück!" Und mit seinem Nostalgie-Riesenrad könnte er auf sieben, acht Plätzen stehen, "aber man will halt auch mit den Leuten, die man länger kennt, was tun, nicht immer mit dem Bestbieter".

Darum steht er damit, wenn alles gut geht, auch heuer zu Weihnachten wieder in Linz. Sein Riesenrad ist eine 100 Jahre alte Holzkonstruktion aus Deutschland mit doppeltem Bremssystem und bereits 14 Gondeln à vier Passagieren, üblich waren früher nur acht. In Deutschland, sagt er, gab es viele dieser Holzriesenräder, aber die meisten wurden zusammengeschnitten, verheizt oder sind verkommen. Er kaufte seines von einem Schausteller, der es nur einmal in Wien in der Hofreitschule aufgebaut hatte, dann war es ihm vom Arbeitsaufwand her zu viel.

"I wü nu amoi!": Auch auf das Drinnen-Sitzen und das Feeling kommt es an.
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Mancher Schausteller übernimmt sich, mancher verspekuliert sich mit neu angeschafftem Gerät. Es gebe welche, sagt Winkler, bei denen es 20 Jahre gut läuft, dann kaufen sie um zwei Millionen ein neues Karussell, und das funktioniert nicht. Verkaufen kann man so etwas dann natürlich nicht mehr. Auch sei nicht gesagt, dass die Leute bei etwas Neuem automatisch "ein Wohlbefinden" hätten. Neue Karusselle mit viel LED-Licht und mächtig Lärm, wo es einem den Magen umdreht oder einem die Ohren wackeln, sind bei den Kindern nicht unbedingt beliebter. "Das ist oft sehr schwierig und verlangt viel Gespür. So ein Breakdance im Prater, der geht seit 20 Jahren gut, da fahren sie immer wieder!" Oder mit seinem "Ballon": Den hat er vor 20 Jahren in Italien gekauft, "der ist relativ schnell aufgebaut, und die Kinder lieben ihn: das Drehende, Tanzende, das Auf und Ab." Da höre er dann ständig: "I wü nu amoi!" Gefallen täte den Kindern bald etwas, und die Eltern setzten sie überall drauf und fotografierten sie. Aber das Drinnen-Sitzen und das Feeling, das müsse eben passen.

Im 40-Tonner nach Wien

Winkler hat auch einen 8-Tonnen-Stapler auf seinem Gelände stehen, einen 3-Tonnen-Stapler sowie einen Radlader für die Erdarbeiten oder, wenn sie im Winter heimkommen nach den Märkten und einen halben Meter Schnee liegen haben, zum Schneeräumen. Seine Frau Soraya besitzt alle Führerscheinklassen und "fährt mit einem 40-Tonner zum Stephansplatz hinein, und wenn sie morgen mit einem 50-Tonner nach Rom fahren muss, dann ist sie schneller dort als ich". Sie stammt vom bekannten Circus Bely ab, einem 1800 gegründeten Unternehmen mit Winterstandort in Rastatt in Deutschland, sie war dort Artistin. Als die beiden nach den Lockdowns endlich wieder mit einem Kinderkarussell am Wiener Stephansplatz vertreten waren, hatten sie plötzlich Augen für die Schönheit der Stadt.

Alfred und Soraya Winkler.
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Jeden Tag fuhr Winkler von Rasdorf, wo sie schliefen, mit dem E-Scooter durch Nebenstraßen in die Innenstadt, von der er bis dahin nur die Kärntner Straße und den Graben kannte. "Hemdenschneider, Schuhmacher, großartige Geschäfte. Wenn das Wetter schön ist, dann ist das eine Harmonie, herrlich!" Nach dem voraussichtlich anstrengenden Weihnachtsrummel, hat er seiner Frau versprochen, werden sie drei Wochen in Wien verbringen und die Bundeshauptstadt erkunden.

Zuvor aber muss er noch bei einer Kindereisenbahn 250 Radlager austauschen, da einen Patschen flicken, sich dort um eine neue Vignette kümmern. Er hat Mechaniker gelernt, aber nicht fertig gemacht, weil der Vater ihn schon im Betrieb brauchte. Heute ist er Schlosser, Stahlbauer, Tischler, alles macht er selbst. Arbeitskräfte zu finden, wäre ausgesprochen schwierig: "Keiner will auf Reise gehen, keiner will was tun. Wir haben hier zwei Gasthäuser in der Ortschaft, und beide sperren zu, weil sie keine Leute finden. Groß-Siegharts zehn Kilometer weiter - ein Gasthaus! Früher waren es fünf. Das Waldviertel heißt Krisenregion, aber arbeiten will keiner", sagt er.

Kollektivvertrag gäbe es bei ihm nicht, dafür braucht er für jedes Bundesland eine eigene Konzession. Anders als die Marktfahrer unterliegt er als Schausteller nämlich keiner Gewerbeordnung, dafür muss er aber auch nicht für jeden Traktor einen Stellplatz mit Ölabscheider betonieren. Für sein Nos-talgie-Karussell immerhin, das er endlich fertig restaurieren will, hat er in Tschechien einen Tischler gefunden und im benachbarten Groß-Siegharts einen Airbrusher, der ihm die Bilder für die Rahmen, die später den Trichter des Karussells abdecken sollen, neu malt.

Das weltweit erste Karussell wurde mit Dampfmaschine angetrieben und stand 1863 im englischen Bolton auf einem Töpfereimarkt. Ab etwa 1880 drehten sich die Karussellpferde mit der charakteristischen Auf- und Abbewegung, die den Eindruck des Reitens verstärkt. Winklers Nostalgiekarussell ist über 100 Jahre alt und reiste, bevor er es erwarb, fünfzig Jahre lang durch Kärnten: Wiesenmärkte in St. Veit, Bleiburg oder Wolfsberg, Villacher Kirtag.

Nur net aufregen

Kärnten, sagt Winkler, wäre, was Brauchtum angeht, eine eigene Kategorie: "Den Wiesenmarkt in Bleiburg gibt es seit 500 Jahren, und die drei Tage, wo er stattfindet, machen die dort Halligalli, das kannst dir net vorstellen. Oder der Bürgermeister in Villach, der sagt: Bevor es euch zu laut ist und ihr euch aufregt’s, verlasst’s die Stadt und fahrt’s in Urlaub! Wenn du dich nämlich aufregst, hast du selbst den Rest des Jahres kein schönes Leben, die fahren dort ein bisserl ein anderes Programm."

Winkler führt mich zu einem ehemaligen Pferdestall, den er gerade für seine "Dieselpferde", die er auch sammelt, renoviert. "Der Vater hat schon alles Mögliche gesammelt, ein Schwager sammelt auch, das ist ein bisserl ein Tick bei uns", lacht er. Die Traktoren haben früher die Runddachwägen der Schausteller gezogen. Den roten Hanomag hat er in München gekauft, wo er dreißig Jahre lang am dortigen Umzug fuhr, ausgerüstet mit Druckluft, Rockinger-Anhängerkupplung und Seilwinde, wenn er wo hängen bleibt. Dann stehen da noch ein englischer Nuffield mit 60 PS, ein 55er Hanomag, ein 68er Steyr Diesel 288A mit vier Zylindern, ein Lanz Bulldog 2-Takter-Diesel ohne Einspritzung, den man "anheizen muss und mit dem Lenkrad über den Schwung statzen. Wenn er will, springt er an, wenn er nicht will, dann nicht", lacht Winkler. "Die Bulldog-Leute wissen, wovon ich rede."

In einem Transportwagen dahinter hat er eine 78-stufige Richter-Orgel aus dem Jahre 1912 verpackt, die er zwei Jahre lang herrichten ließ, ein Toprestaurateur aus Tschechien, der eigentlich nur Kirchenaltäre macht, hat ihm die Fassade mit Blattgold erneuert, technisch ist sie sowieso tipptopp. Orgeln standen früher auf allen Volksfesten und sorgten für das typische Flair, als noch nicht die laute Musik und die lärmenden Geräusche von "Turbo Booster", "Boomerang" und anderen Fahrgeschäften dominierten.

Alfred Winklers 78-stufige Richter-Orgel aus dem Jahre 1912 mit Lochkarte.
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Von diesen Richter-Orgeln gibt es in Europa noch drei Stück, sagt Winkler, und selbstverständlich wären alle seine Orgeln mit Lochkarten ausgestattet, wie sie früher auch die Drehorgeln der Werkelmänner hatten. Ein Onkel der niederländischen Familie Hinzen, Inhaber der größten Orgelsammlung Europas, war ursprünglicher Besitzer, bevor sie an die Familie der bekannten Reisenden Elfi Althoff-Jacobi vom Österreichischen Nationalcircus verkauft wurde, die die Orgel dann 30 Jahre lang überall hin mitnahm, bevor sie ein Baumeister aus Raabs an der Thaya kaufte, der in Konkurs ging und sie an Winkler weiterverkaufte.

Zwei Original-Figuren - die beiden Jungfrauen, die sich anschauen und den Takt geben - waren da schon gestohlen und gegen Lösegeld angeboten worden, Winkler weiß sogar, wer sie hat, aber er kaufte lieber andere. "Das ist wie bei den Oldtimern", erklärt er. "Von den Flügeltürer-Mercedes in Österreich gibt es vielleicht zehn, die 100 Prozent original sind, alle anderen sind zusammengeschustertes Klumpert."

Heute geschlossen: Kirtage im Lockdown-Modus.
© Rebhandl

Wenn bei seiner Orgel ein Ventil hängt, dann muss er es richten, der Luftdruck beim Blasbalken muss stimmen, die Geschwindigkeit für die Lochkarten - alles muss passen. "Ein bisserl kenn ich mich mittlerweile aus", sagt er ein bisserl kokett, mancherorts täten sie ihm 300 Euro pro Tag bezahlen, wenn er nur während der Weihnachtszeit dreimal zehn Minuten lang spielen würde.

Aber selbst hat er keine Zeit, um sich zur Orgel zu stellen, und anvertrauen will er sie auch keinem. Außerdem hat ihn der Lockdown gelehrt, etwas kürzer zu treten und die schönen Dinge des Lebens zu sehen. Lieber macht er sich also abends eine Flasche Bier auf, legt eine Lochkarte in eine seiner Orgeln und hört sich "Smile" an oder "moderne Schlager" wie "Quando quando quando".

Dann ist er richtig glücklich.

Manfred Rebhandl, geboren 1966 im oberösterreichischen Roßleithen, lebt in Wien. Er schreibt Krimis um den Superschnüffler Rock Rockenschaub und Reportagen für Zeitungen.