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"Wir dürfen keine falschen Signale aussenden"

Von Ronald Schönhuber

Politik

In der Flüchtlings- und Migrationsfrage will der neue Außenminister Michael Linhart den strikten Regierungskurs fortsetzen. Im Interview zeigt sich der 63-Jährige zudem als überzeugter Transatlantiker und Befürworter der Westbalkan-Erweiterung.


Viel Zeit, um zu überlegen hatte Michael Linhart nicht. Nach dem Rücktritt von Sebastian Kurz und dem Aufrücken von Alexander Schallenberg ins Kanzleramt musste binnen weniger Stunden auch ein neuer Außenminister gefunden werden. Linhart diskutierte die Sache mit seiner Familie und wurde schließlich am vergangenen Montag in der Hofburg auf seine neue Funktion angelobt. Knapp eine Woche danach ist der ehemalige Botschafter in Paris der "Wiener Zeitung", dem "Kurier" und der "Tiroler Tageszeitung" in einem gemeinsamen Interview nun Rede und Antwort gestanden.

"Wiener Zeitung": Herr Minister, Sie sind 63, blicken auf eine lange Karriere zurück, die Sie in viele Länder geführt hat. Jetzt sind Sie auf einmal Außenminister - hat Sie die Vorstellung, bald einmal in Pension zu gehen, nicht gereizt?

Michael Linhart: Eigentlich nicht. Ich hätte auch als Botschafter weitergemacht. Ich habe den Job, Diplomat zu sein, im Außenministerium zu arbeiten, Außenpolitik zu gestalten, immer spannend gefunden. Ich komme aus einer Diplomatenfamilie und wollte von klein auf immer Diplomat werden. Wenn man immer für das Land gearbeitet hat, immer in der Außenpolitik gearbeitet hat, und dann hat man die Chance, das an oberster Stelle zu machen - warum nicht?

Wie wird sich das auf die österreichische Politik auswirken, wenn jetzt der Kanzler und der Außenminister gelernte Diplomaten sind?

Ein Land mittlerer Größe wie Österreich braucht in einer globalisierten Welt umso mehr Außenpolitik. Es muss im Ausland präsent sein, sich einbringen. Wir haben eine exportorientierte Wirtschaft, da ist es extrem wichtig, dass wir uns im Ausland gut vertreten. Wenn man einen außenpolitischen Vollprofi als Kanzler hat, der sich in der Europäischen Union auskennt, dann kann das nur von Vorteil sein. Wenn ich als Außenminister die Professionalität mitbringe, dann ist das auch von Vorteil.

Zu den Sachthemen: Ihre erste Reise führte nach Bosnien-Herzegowina. Ist die EU-Erweiterung des Westbalkans auch bei Ihnen ganz oben auf der Prioritätenliste?

Ja, das habe ich auch schon gesagt. Ich will meine Außenpolitik so anlegen, dass sie eine auf Werten basierende ist. Das heißt Grundfreiheiten, Menschenrechte, gegen Antisemitismus, gegen den ich immer meine Stimme erheben werde, offene Gesellschaft, Dialog, Verhandlung - und wenn man das runterbricht, dann bedeutet das geopolitisch Nachbarschaftspolitik und Europa-Politik. Und wenn man von Europa redet, dann ist Europa erst dann vollständig, wenn dieses Mosaik um die Staaten des Westbalkans vervollständigt wird. Das ist für mich eine Herzensangelegenheit, eine absolute Priorität. Diese Länder gehören zu Europa, sie sind Teil unserer Sicherheit, unserer Stabilität, und der wirtschaftlichen Entwicklung. Ihr Weg muss zur Mitgliedschaft in der EU führen.

Aber ist der Westbalkan nicht eines der Beispiele für die Uneinigkeit der EU? Beim Westbalkangipfel wurde zuletzt Geld zugesagt, die Beitrittsperspektive aber hinausgezögert, weil sich zum Beispiel Bulgarien wegen Nordmazedonien querlegt ...

Es ist auch dort eine Entwicklung, wo beide Seiten liefern müssen. Es ist klar, dass die Westbalkanstaaten ihre Hausaufgaben machen müssen, das fordern auch wir. Aber wir müssen als Österreich und EU starker Partner an der Seite der Westbalkanstaaten auf ihrem Weg in die Europäische Union sein.

Sie haben zuvor das Thema Werte erwähnt. Eines der Themen, das die türkis-grüne Regierung und die davor sehr stark beschäftigt hat, war das Thema Migration und Flüchtlinge. Ihr Vorgänger Alexander Schallenberg ist eine sehr harte Linie gefahren, hat sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen sehr stark gestemmt - werden sie den Kurs 1:1 fortsetzen?

Drei Punkte: Wir müssen Grenzen schützen. Wir müssen viel stärker noch auf die Ursprungs- und Transitländer eingehen, die haben eine Verantwortung, und wenn sie diese nicht wahrnehmen, dann führen wir auch unser Asylsystem ad absurdum. Und wir müssen den Menschen vor Ort helfen. Wir dürfen einfach nicht falsche Signale aussenden. Manchmal braucht es eine klare Sprache.

Braucht es eine gemeinsame europäische Asyl- und Migrationspolitik?

Die braucht es. Wir sind eine Europäische Union, die zusammenhängt, und wir können das nur im Einklang lösen.

Aber wie handlungsfähig ist Europa da? Gerade das Beispiel Migration zeigt doch, dass es da doch überhaupt keine Einigkeit gibt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat vor einem Jahr den Migrationspakt vorgestellt, von dem redet heute überhaupt niemand mehr. Und es ist seither keinen Schritt weitergegangen.

Aber ich glaube, es hat sehr wohl eine Weiterentwicklung gegeben. Wir haben schon 2015 gesagt, dass man die Grenzen schützen muss. Mittlerweile wird davon in ganz Europa gesprochen. Also ja, da liegt noch viel Arbeit vor uns, aber wir müssen auch die richtigen Signale aussenden.

Ist das mit ihrem Wertekatalog in Einklang zu bringen, dass Österreich so eine harte Afghanistan-Politik fährt? Wir nehmen auch jene nicht auf, die vor den Taliban flüchten.

Wir haben schon sehr viel getan für Afghanistan. Mit 20 Millionen Euro haben wir als Österreich das größte humanitäre Soforthilfepaket für Afghanistan bereitgestellt. Und ich glaube, es geht auch dort darum, dass wir nicht die falschen Signale aussenden. Wir werden die Grenzen schützen, aber wir werden auch mit den Ursprungs- oder Transitländern sprechen. Man darf nicht vergessen, dass ein Großteil der afghanischen Flüchtlinge, die nach Österreich kommen, gar nicht unmittelbar aus Afghanistan gekommen sind. Wir haben 44.000 Afghanen hier, das ist die viertgrößte Gemeinschaft weltweit. Damit Frankreich in Relation zur Einwohnerzahl auf die gleiche Menge kommt, müssten dort noch einmal 300.000 Afghanen aufgenommen werden.

Sie sagen "falsche Signale". Wenn jemand vor den Taliban flüchtet und wir nehmen ihn auf, was ist daran falsch?

Als es die Krisen in Ungarn, Tschechien und Jugoslawien gegeben hat, sind wir ja auch unserer Verpflichtung als Nachbarland nachgekommen und haben Flüchtlinge aufgenommen. Ich glaube, da können wir auch jetzt Verantwortung von Nachbar- und Transitländern verlangen. Wir wollen verhindern, dass sich Leute auf den Weg machen, sich in die Hände von Schleppern begeben und unterwegs sterben.

Es hat auch immer wieder die Aussage der österreichischen Politik gegeben, dass Hilfe vor Ort geleistet wird. Da war häufig die Kritik der NGOs zu hören, dass das nur Lippenbekenntnisse sind und es in Wahrheit an Geld fehlt.

Ich bin ja der Gründer der ADA, also der österreichischen Agentur für Entwicklungszusammenarbeit. Wir haben damals begonnen mit nicht einmal 80 Millionen Euro, jetzt stehen wir bei 180 Millionen. Wir haben mit 5 Millionen Euro humanitärer Hilfe begonnen, jetzt sind wir bei 52,5 Millionen und wollen in dieser Legislaturperiode auf 60 Millionen kommen. Und wir haben auch im Impfstoffbereich Hilfe geleistet. Also, da hat es eine enorme Entwicklung gegeben und es ist enorm viel Geld dazugekommen.

Kommen wir wieder auf Europa zurück. Sebastian Kurz hat als Kanzler ja des öfteren Verständnis für die Position der Visegrad-Staaten, vor allem Polens und Ungarns, geäußert. Wie groß ist Ihr Verständnis für die Politik der polnischen Regierung in Sachen Justiz und für die Politik der ungarischen Regierung in Sachen Medien?

Ich erkläre das wieder mit den Werten. Wir stehen ganz klar für europäische Werte, und die wollen wir auch vermitteln. Ich bin aber dagegen, dass man von den guten Europäern und den schlechten Europäern spricht. Denn es geht vor allem darum, dass man auch auf diese Länder zugehen muss und dass man sie anhört. Ich glaube, das ist ein großes Anliegen, das diese Länder haben.

Aber nicht böse sein, zuhören tun wir schon relativ lang?

Aber wir müssen sie auch einbinden. Es wäre für mich undenkbar, dass wir ein Europa haben, wo diese Länder ausgeschlossen sind oder diese Länder nicht mehr Mitglied sind.

Politik neigt dazu, in Legislaturperioden zu denken. Wenn wir über den Tellerrand hinausblicken: Was sind für Sie die großen geopolitischen Herausforderungen der nächsten 20 Jahre?

Wir müssen ständig am Projekt Europa arbeiten. Ich halte hier den Dialog mit der Bevölkerung für enorm wichtig. Ich sehe die Entwicklung der transatlantischen Partnerschaft als Herausforderung. Ich bin ein klarer Anhänger dieser Partnerschaft. Wir müssen China als Partner, Konkurrenten und systemischen Rivalen begreifen. Und natürlich ist der Klimawandel eine große Herausforderung.

Wie soll sich Europa zwischen China und den USA positionieren?

Wir brauchen in vielen Bereichen China als Partner - wenn ich nur an Klimaschutz und Wirtschaft denke. Wir sollten den Dialog suchen, aber mit klaren Standpunkten unserer Wertehaltung entsprechend.

Österreich hatte in der Vergangenheit eine neutrale Vermittlerrolle im Nahen Osten eingenommen. War das Hissen der Israel-Flagge am Dach des Kanzleramts nicht kontraproduktiv?

Das sehe ich überhaupt nicht so. Das war ein klares Zeichen gegen Terrorismus. Das versteht auch die arabische Seite.

Das Verhältnis zwischen Österreich und der Türkei gilt als unterkühlt. Werden Sie einen Neubeginn in den Beziehungen mit Ankara versuchen? In türkischen Medien wurde Ihre Angelobung zum Außenminister wohlwollend aufgenommen, auch weil Sie in der Türkei zur Welt gekommen sind.

Selbstverständlich werde ich auf den türkischen Außenminister zugehen. Ich bin ein Mann des Dialogs. Das heißt nicht, dass wir unsere Haltung aufgeben.

Österreich hat sich besonders laut für den Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ausgesprochen. Sind Sie auch für den Abbruch?

Ich bin für eine klare Sprache. Wir sehen die Türkei nicht in der EU, aber wir wollen ein enges Verhältnis mit der Türkei.

Der neue Kanzler Alexander Schallenberg hat erklärt, dass an den Vorwürfen gegenüber Sebastian Kurz nichts dran ist. Sehen Sie das auch so?

Ich kenne Sebastian Kurz sehr gut, wir haben knapp fünf Jahre eng zusammengearbeitet und haben ein enges Vertrauensverhältnis. Ich vertraue darauf, dass er all diese Vorwürfe aufklären kann. Ich habe auch volles Vertrauen in die Arbeit der Justiz.

Michael Linhart wurde 1958 als Sohn eines österreichischen Diplomaten in Ankara geboren. 1986 trat der promovierte Jurist ins Außenministerium ein und war in der Folge in den Botschaften in Äthiopien, Syrien und Kroatien tätig. Weitere wichtige Karriereschritte für den ehemaligen Kabinettsmitarbeiter von Wolfgang Schüssel waren die Rolle des Geschäftsführers der Agentur der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit (ADA) und der Posten als Generalsekretär im Außenministerium. Zuletzt war Linhart Botschafter in Frankreich.