Wen Jiabao war einst der zweitwichtigste Politiker Chinas. Nun wird ein Essay gelöscht, in dem er versteckte Gesellschaftskritik äußert.
Im China der Gegenwart wird längst kein Abweichen vom offiziellen Narrativ mehr geduldet. Niemand ist vor dem staatlichen Zensurapparat gefeit – nicht einmal ein ehemaliger Premier.
Wen Jiabao war immerhin zwischen 2003 und 2013 der zweitmächtigste Politiker des Landes. Normalerweise melden sich „Elder Statesmen“ in China nicht in der Öffentlichkeit zu Wort. Doch der 78-jährige Wen publizierte am Freitag einen Essay.
Er erschien zunächst in der gedruckten Ausgabe einer obskuren Wochenzeitung aus der einst portugiesischen Kolonie Macau. Dessen Redaktion bezeugte jedoch die Echtheit des Textes. Offenbar wollte sich kein Medium in Festlandchina der brenzligen Angelegenheit annehmen.
Kritik zwischen den Zeilen
Der Grund dafür ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich, denn Wen Jiabaos Artikel liest sich zunächst einmal wie ein Nachruf auf seine jüngst verstorbene Mutter. Doch wer zwischen den Zeilen liest, entdeckt nicht nur eine gehörige Portion Gesellschaftskritik.