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Von Pilatus lernen

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© WZ

Das Fehlen starker Überzeugungen ist die Stärke von Skeptikern - und zugleich ihre größte Schwäche.


"Was ist Wahrheit?", fragt im Johannes-Evangelium Pontius Pilatus den Juden Jesus, den dessen Feinde zum Tode verurteilt sehen wollen. Hans Kelsen, österreichischer Rechtsphilosoph und Mastermind des Bundes-Verfassungsgesetzes, schreibt in "Wesen und Wert der Demokratie" über den Prozess Jesu: "Die schlichte, in ihrer Naivität lapidare Darstellung gehört zum Großartigsten, was die Weltliteratur hervorgebracht hat; und ohne es zu beabsichtigen, wächst sie zu einem tragischen Symbol des Relativismus und der Demokratie."

Dem Verfassungsdenker Manfried Welan zufolge ist Pilatus der Vertreter einer alten, müde und darum skeptisch gewordenen Welt. Mit einem, der von sich behauptet, er kenne "die Wahrheit", weiß er nichts anzufangen. Also ruft Pilatus, der keine Lust verspürt, sich in eine innerjüdische Auseinandersetzung einzumischen, das Volk auf, sich einen Gefangenen, am besten diesen Jesus, frei zu wünschen. Das Ende der Geschichte ist bekannt.

Pilatus’ Frage nach der Wahrheit ist bis heute unbeantwortet - und wird es bleiben. Das liegt im Wesen des Menschen und seiner Sehnsucht, sich selbst als Teil einer höheren Ordnung zu begreifen. Über diese Wahrheit lässt sich in der Tat nicht abstimmen - über unsere Angelegenheiten hier auf Erden aber sehr wohl.

Den Ausweg aus diesem Dilemma weisen die Ideen von Gewissensfreiheit und säkularem Staat. Pilatus, der Vertreter einer alten, müden Welt, ist als widersprüchliche Figur in die Geschichte eingegangen. Er unternahm einiges, um den Tod des Galiläers zu verhindern, nur eben nicht genug. Er verzichtete auf die autoritative Durchsetzung seines Willens, für die er als Statthalter die Macht gehabt hätte, und ließ einer manipulierten und laut schreienden Menge ihren Willen. Das Fehlen starker Überzeugungen ist die Stärke von Skeptikern - und zugleich ihre größte Schwäche. Das meint Kelsen mit seinem Satz zum Prozess Jesu als "tragisches Symbol des Relativismus und der Demokratie".

Den Herausforderungen von Relativismus vulgo "Wir machen die Welt, wie sie uns gefällt" und falschen Propheten mit ihren apodiktischen Überzeugungen und ihrer angemaßten Aura von "Wer nicht für mich ist, ist gegen mich" steht die offene Gesellschaft bis heute gegenüber - oft in der lächerlichen Mini-Ausgabe auf Österreichisch, aber manchmal auch in echt und dann bedrohlich. Das beste Gegenmittel ist der allgegenwärtige skeptische Zweifel gegenüber allen Varianten der Mächtigen. Und die Entschlossenheit, einer manipulierten, laut schreienden Menge nicht das letzte Wort zu überlassen.