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Demokratie als Dystopie

Von Daniela Ingruber

Reflexionen
Der Blick aus dem Fenster lässt fast zwangsläufig nach einem einenden Faktor suchen, um die Einsamkeit zu ertragen.
© Getty Images / Asanka Ratnayake

Die Pandemie nagt an den Grundfesten dessen, was demokratiepolitisch vielen vorher gleichgültig war, weil sie es für selbstverständlich hielten. - Ein Essay.


Es begann schleichend, lange Zeit unbemerkt. Die eine Schwäche, die andere Gleichgültigkeit. Warnungen wurden weggeschoben. Man fühlte sich sicher, gefahrlos nahezu, denn der Großteil der Gesellschaft hatte als nachgeborene Generationen nichts anderes erfahren als das Glück weitgehender Freiheit und Sicherheit. Warum, so dachte man, sollte sich das jemals ändern?

Glaube und Zweifel

Kritik hat es dennoch schon lange gegeben, auch eine Vielzahl an Szenarien, in welche Richtung sich die Demokratie bewegen würde. Die meisten waren negativ besetzt. Da tauchte die Postdemokratie auf, die fragmentierte Demokratie, die illiberale und andere Formen. Sie erklärten jeweils einen Teil der Krise und redeten diese zusätzlich herbei, denn wie mit jeder Wahrheit war es auch mit dieser so, dass sie irgendwann bestätigt schien.

Die oftmalige Wiederholung, die Demokratie sei in der Krise, wurde im Laufe der Zeit von der Idee zum vermeintlichen Allgemeinwissen. Der Zweifel wuchs, breitete sich aus und verankerte sich in den Köpfen. So ging der Glaube an die Demokratie vor dem Zweifel in die Knie und verstärkte damit, was es tatsächlich gab: eine Tendenz zur Veränderung und Schwächung der liberalen Demokratie.

Ein Orban hier, ein Erdogan da, ein Trump dort. Sie waren und sind nur diejenigen, die den Moment nützen. Es blieb nicht unbeachtet, doch war das Drama zu wenig peinigend, um es ausreichend ernst zu nehmen, auch innenpolitisch. Dann kam die Sars-CoV-2-Pandemie und wurde zum Beschleuniger für die politische, gesellschaftliche sowie wirtschaftliche Entwicklung, und dies nicht im besten Sinne.

Der erste Blick aus dem Fenster, damals im März 2020, als sich eine schmerzhafte Stille ausbreitete, führte fast zwangsläufig zu einem Gefühl der Gemeinschaft und des Suchens nach einem einenden Faktor, um die aufkeimende Einsamkeit zu ertragen. Man begann einander selbst in den größeren Städten zu grüßen, auch wenn man einander fremd blieb. Man teilte das Bewusstsein für eine besondere Situation, eine unerwartete, kleine Dystopie, die ebenso verwirrend wie spannend schien. Plötzlich war die Zukunft da, sie sah nicht schön aus, doch man war Augenzeuge und damit außergewöhnlich.

Dann aber wollte der Zustand nicht mehr weggehen. Die Übergangslösung von Lockdown, Homeoffice, Ausgangssperren blieb, die Ungewissheit wurde prolongiert. Das Leben schien vor dem Fenster abzulaufen, während man drinnen saß und die immer gleichen Pressekonferenzen verfolgte.

Wäre der Philosoph Jean Baudrillard noch am Leben, würde er vielleicht schreiben: "Das Jahr 2020 hat nicht stattgefunden", und würde dann erklären, dass wir diese Zeit lediglich hinter Bildschirmen und damit hyperreal verbracht haben, abgeschirmt voneinander ebenso wie von anderen Wahrheiten als jenen, an die wir glauben. Denn das Jahr 2020 führte deutlich vor, was in der Postmoderne gepredigt wurde: Es gibt keine Wahrheiten mehr - oder zu viele davon. Die Beliebigkeit dessen, was man als Wahrheit empfinden mag - nicht mehr verifizieren oder falsifizieren, sondern emotional "wahr"nehmen -, hat sich derart beschleunigt, dass Tatsachen zu Stimmungen verkommen.

Segen und Fluch

Man ist auf sich selbst zurückgeworfen und ist das nicht gewohnt. In der Einsamkeit und der Verunsicherung sind Smartphones und Social Media Segen und Fluch. Sie lenken ab, verknüpfen über Distanzen und geben vor, Wissen zu transportieren, dabei erhält man bloß, wonach man sucht. Die Algorithmen sorgen auch in der Pandemie für das, was man bekommt: Nur, dass es nun eine größere Rolle spielt, weil zu wenig Ablenkung vorhanden ist, die die Falschnachrichten korrigieren würde. So werden aus vermeintlich zufällig Gefundenem die Gewissheiten von morgen.

Denn in der Krise brauchen Menschen Gewissheiten. Meist werden sie Wahrheiten genannt. Die Dystopie entfaltet ihre eigentliche Stärke, wenn Menschen suchen. Man glaubt, was man glauben kann. Und man lernt schon früh, so zu sehen, wie man sehen soll. Das war auch früher nicht anders, doch brachten Begegnungen noch diverse Meinungen in das eigene Denken. Auseinandersetzungen können lehrreich sein, in der Dystopie steht stattdessen pure Aggression. Die Demokratie bekommt das ebenso zu spüren wie die Bevölkerung. Erstere wird als zu schwach, zu wenig widerstandsfähig und zu elitär beschimpft, als könnte sie je etwas anderes sein als das, was man aus ihr macht.

Was nicht in den Kram passt, wird abgelehnt. Was gefällt, wird als korrekt wahrgenommen. Zahlreiche Studien belegen, dass Menschen ihre Vorstellungen darüber, was Fakten sind, jederzeit zu verschieben bereit sind, wenn eigene moralische Einstellungen oder nahestehende Personen betroffen sind. Ein Lieblingsschauspieler kann kein Vergewaltiger sein, der Bruder nicht korrupt und die langjährige Freundin keine Betrügerin. Wenn man etwas nicht glauben will, sind die Fakten falsch und man sucht nach anderen.

Gerücht und Kontrolle

Einem Politiker aber, der unbequeme Maßnahmen anordnet, traut man im Gegensatz zu einem geliebten Menschen jederzeit Böses zu. Wenn Handlungen aufgrund schlechter Regierungskommunikation unverständlich bleiben oder nicht dem entsprechen, was man hören möchte, wird hinter die Handlung ein verstecktes Interesse interpretiert. Allein der Umstand, dass man geneigt ist, überall das Negative zu vermuten, schwächt nicht nur die betreffenden Entscheidungsträger, sondern immer auch das demokratische System, weil Gerücht und Kontrolle miteinander verwechselt werden. Letztere ist lebensnotwendig für eine Demokratie. Ersteres macht sie klein und wehrlos, doch das spielt im dystopischen Denken keine Rolle, weil es nichts mehr glauben kann und dabei doch so verzweifelt nach Wahrheiten sucht, die die Welt erklären könnten.

Die Faktenlage, die man in dieser hoffnungslosen Suche anerkennt, wird weniger davon beeinflusst, was ist, sondern davon, was sein soll. Bildung verbessert diesen Hang zur Irrationalität nicht wesentlich, weil auch sie negiert, dass Moral und Gefühle das Hirn stärker beeinflussen als Wissen. Man verbiegt sich und wenn es sein muss, mit sich die Tatsachen, um die eigenen Ängste zu beruhigen. Indem im Lockdown das Teilen von Social-Media-Inhalten die fehlenden Sozialkontakte ersetzt, schrumpft die Welt in ihrer Zugänglichkeit und mit ihr schrumpfen die Erklärungsmuster.

Alles scheint endlich Sinn zu ergeben. Mit den einfachen Erklärungen offenbart sich der Plan, der jahrzehntelang hinter allen Weltwirtschaftsforen, den Vereinten Nationen und der Weltbank vermutet wurde und uns alle zu willenlosen Sklaven degradiert. Die banale, aber um nichts weniger erschreckende antisemitische Erzählung, die hinter diesen Legenden steckt, die von Macht und Geld handeln, wird hingenommen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf: dass ein kleines Teilchen, im aktuellen Fall ein Viruslein, das Leben, wie wir es kannten, nachhaltig aus den Grundfesten reißt. Lieber glaubt man, dass man immer schon betrogen und manipuliert worden ist, als zuzugeben, dass man etwas nicht versteht.

Kritik ist in der Dystopie nicht gestattet. Weder auf Seiten der Mächtigen noch auf Seiten jener, die dagegen ankämpfen. Alles scheint schwarz oder weiß. Die Grautöne gehen ebenso verloren wie die Buntheit des unabhängigen Denkens. Der Glaube, im Recht zu sein, wirkt zuweilen stärker als Freundschaft. Der französische Philosoph Jacques Derrida erklärte einst den Zusammenhang von Freundschaft und Demokratie. Er sah die Einsamkeit, die es zu überwinden gelte. Heute trifft das verstärkt zu. Gesetze wappnen die Demokratie vor vielem, doch selbst Hans Kelsen konnte nicht mit der Einsamkeit und Angst als Stichwortgebern rechnen. Ihnen ist das demokratische System ausgeliefert.

Wir Cyborgs

Die Kommunikationsfehler der Regierungen tragen dazu bei, Meinungen wie Ideologien zu verfestigen. Indem Daten zurückgehalten werden, können sich Gerüchte festsetzen. Es ist einfach, dann einen Zweifel zu schüren, und es finden sich Personen, die davon profitieren wollen. Ein wenig aus der Faktenlage, viel Gefühl und ein Eigeninteresse an den 15 Minuten Berühmtheit; dann ein paar, die bereit sind, darin eine Wahrheit zu entdecken. Dagegen reagiert die Wissenschaft meist hilflos, beleidigt oder ohnmächtig, weil sie diesen Nicht-Diskurs nicht gewöhnt ist. Der Diskussion allerdings muss sich die Wissenschaft in der Pandemie stellen, denn sie macht auch Politik. Daher liegt es im Interesse der Wissenschaftsredlichkeit, Ergebnisse zu hinterfragen, zu beweisen und zu diskutieren, auch mit der Bevölkerung. Der Fehler nämlich liegt meist nur in der Kommunikation.

Werner Heisenberg und Max Planck haben vor mehr als hundert Jahren gezeigt, dass Wahrheiten nicht so neutral sind, wie es bequem wäre. Die Perspektive kreiert Wahrheiten. Auch Wissenschaft ist interessengeleitet. Es werden die einen Präsentationen hochgelobt, die anderen verworfen. Die Medien und die Politik helfen mit. Die scheinbare Beliebigkeit von Forschungsergebnissen und Entscheidungen, die in der Eile nicht mehr ausreichend erklärt werden, hat eine logische Folge für die Bevölkerung: Wissens- und Technikverweigerung.

Wurde wirklich vergessen, dass der Großteil der Menschheit längst Cyborgs sind? Spritzen, Infusionen, Zahnbehandlungen, Plomben, eingesetzte Metallplatten oder Keramikteile. All das ist nicht menschliches Material. Dennoch leben die meisten gut damit. Die moderne Medizin hat vor langer Zeit damit begonnen, den Menschen zu verändern. Jetzt so zu tun, als wäre eine Impfung das Ende des Menschseins und der Beginn einer Schreckensherrschaft, zeigt die verschwommene Weltsicht in einer Zeit der Verunsicherung.

Jene, die nach einem Jahr zu Recht voller Angst oder Sorge sind, neigen eher dazu, an Mythen zu glauben. Nicht, weil sie weniger nachdächten, sondern weil die Wiedererkennungswerte als Wahrheiten fungieren und dadurch vertrauter klingen als das, was ungeliebte Politiker oder Forscher sagen. Die Wahrheit, die mir näher ist, muss zutreffen. Die Dystopie wird hier doppelt besetzt. Sie steht immer für das Tun der anderen. Sie ist Gefahr, aber auch Anreiz für das eigene Agieren. Sprachlich betrachtet bedeutet Dystopie einen "üblen Ort". In Zeiten von Lockdowns klingt das nicht unpassend. Orte verwandeln sich in Leerstellen, in Sperrgebiete quasi und in Orte, die ihre Funktion der Begegnung verloren haben. Das gilt auch für die digitalen und mentalen Räume. Die Dystopie ist dann jener Ort, der sich verändert hat und dadurch die Sehnsucht nach der Idylle der Vergangenheit schürt. Je deutlicher wird, dass diese nicht so zurückkehren kann wie erwünscht, desto intensiver wird vor den dystopischen Lügen der anderen gewarnt.

Die Monate vergehen. Immer öfter hört man, man müsse endlich etwas tun. Auch jene, die nie demonstrieren, reden davon, den Widerstand oder eigenen Widerwillen öffentlich zeigen zu müssen. Die Emotion dafür ist vorhanden, was bedeutet, dass man auch für die Botschaften erreichbar ist, selbst wenn man sie lediglich auf YouTube verfolgt. Ihre Wirkung verfehlen die Inszenierungen auch da nicht, denn es gibt stets einen gewissen Wiedererkennungswert. Nur dann ist eine Identifikation möglich. Den Glauben zu verlieren heißt ja, dass etwas an diese Stelle treten kann. Das Politische bietet dafür ein weites Feld.

Dennoch sind die Denkmodelle der Verschwörungslegenden und anderer dystopischer Mythen zum Teil recht beschränkt. Das aktuelle demokratische Regime verkommt zur Fremdherrschaft. Man ersehnt ein anderes System, um die eigene Freiheit zurückzugewinnen, und übersieht, dass das neue System, das im Sinne der Querdenker, QAnon oder anderer Gruppen die Rettung bringen soll, an keinerlei Verfassung und Regeln mehr gebunden ist und dadurch erst recht eine Alleinherrschaft, die Diktatur, bedeuten wird. Dass sich Rechtsradikale mit ihrem Gedankengut daruntermischen und einerseits den Frust der Bevölkerung nützen und andererseits selbst zu aktiven Betreibern der Legenden werden, verschlimmert das Schwanken der Demokratie.

Schriller Alarmismus

Es wird aber auch von ihnen keine Lösung angeboten. Im Sinne der ehemaligen "Zeit"-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff könnte man daher feststellen, dass die aktuellen Skeptiker der Demokratie nicht nur kein konkretes oder besseres System vorschlagen, sondern darüber hinaus auch nicht verraten, warum ein anderes System besser als die Demokratie wäre. Natürlich muss sich die Demokratie ändern. Sie ist ein politischer Schutz und muss als solcher die Entwicklungen der Menschen mitmachen. Sie wird dementsprechend einmal stärker, einmal schwächer sein.

Seit Jahren wird das Ende der liberalen Demokratie heraufbeschworen. Nun nagt die Pandemie an den Grundfesten dessen, was demokratiepolitisch vielen vorher relativ gleichgültig war, weil sie es für selbstverständlich hielten. Nach einem Jahr ist der Ausnahmezustand nicht mehr haltbar, der Alarmismus nur noch schrill, auch wenn er berechtigt ist, weil die Pandemie nicht einfach verschwindet, ebenso wenig die Dystopie. Sie stellt das Ende des Vertrauens dar, des Glauben-Könnens und des Konsenses, dass Politiker ihr Bestes geben. Somit wird unterstellt, dass hinter jeder politischen Fehleinschätzung Absicht, hinter ungeschickter Kommunikation der Beweis fehlender Empathie steckt. Das mag zuweilen stimmen. Auch den Politikern fehlt der soziale Kontakt. Sie können nicht mehr wissen, wie es der Bevölkerung geht, weil sie diese und sich selbst nach Hause geschickt haben.

Die Ungeheuerlichkeit der Maßnahmen liegt für die meisten Menschen ohnehin nicht im Konflikt mit der Verfassung - ein solcher dient nur der Bestätigung der eigenen Meinung -, sondern mit dem Privatleben. Das Interesse am Allgemeinwohl konnte lange aufrechterhalten bleiben, doch mit der Erschöpfung verfliegt der Hauch von Solidarität.

Bleibende Narbe

Freiheit wird dann missverstanden und als Ich-Frage abgehandelt. Dabei ist Freiheit nicht einfach zu verkraften. Sie setzt die Verantwortung füreinander voraus. Sich Freiheit zu nehmen, bedeutet Konsequenzen für andere. In Zeiten einer Pandemie kann meine Freiheit die Gesundheit anderer gefährden. So beruht Freiheit auf Gegenseitigkeit und setzt voraus, dass man sich umeinander kümmert. Die Freiheitsidee, die sich nur auf das Ich bezieht, wird irgendwann gewalttätig. Dann verliert sie sich selbst.

Volatile Freiheitsbegriffe: Szene einer "Querdenker"-Demo in Stuttgart.
© getty images / Sean Gallup

Die eigentliche Gefahr für die Demokratie, die tatsächliche Dystopie, beginnt erst. Es ist die gegenseitige Kontrolle, die zur Gewohnheit wird. Selbst wenn alle Verordnungen, die zeitlich beschränkt sind, und alle Maßnahmen ein Ende gehabt haben werden, wird etwas zurückbleiben - sowohl bei Politikern als auch in der Bevölkerung. Die Demokratie wird das Vertrauen der Bevölkerung eingebüßt haben. Die Pandemie wird eine soziale Narbe bleiben und uns als offene psychische Wunde beschäftigt halten.

Ethisch sind wir längst an unsere Grenzen gestoßen. Die Dystopie treibt die Gesellschaft nun auch psychisch auseinander. Die Traumabewältigung wird zur politischen Aufgabe, nicht nur von Seiten der Regierung, sondern gesamtgesellschaftlich. In der Dystopie gehen die Menschen unter. Das muss nicht sein. Man kann sich als Bürgerin und Bürger jeden Tag anders entscheiden. Man muss der Dystopie nicht nachgeben. Und noch weniger muss man glauben, sie bedeute das Ende. Sie kann das sein, was anregt, sich ganz für die Demokratie zu entscheiden. Das bedeutet allerdings Mitarbeit, von der Bevölkerung in gleichem Maße wie von den gewählten Politikern.

Die Dystopie ist keine Realität. Sie setzt sich lediglich im Denken fest. Zu bekämpfen ist sie mit dem einfachen Mittel der Hoffnung.

Daniela Ingruber ist Demokratie- und Kriegsforscherin an der Donau-Universität Krems. Weitere Infos: www.nomadin.at