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Corona-Stufenplan: Übersicht oder Irrgarten?

Von Alexander Dworzak

Politik

Kanzlerin Merkel und die Ministerpräsidenten revidieren erneut ihre Corona-Inzidenzzahlen. Bei Schnelltests und Impfungen hinkt die Bundesrepublik hinterher.


Als Pinnwände modern waren, durften darauf Stadtpläne nicht fehlen. Smartphones und Kartendienste machten daraus ein Relikt aus analogen Zeiten. Nun aber hat ein Plan im A4-Format das Zeug dazu, angepinnt an den Kühlschrank oder an die Wand geklebt Orientierung zu stiften oder auch digital abgelegt zu werden. In fünf Öffnungsschritten und auf acht Spalten legten Bundesregierung und Ministerpräsidenten in Deutschland ihren Corona-Fahrplan für die kommenden Wochen dar.

Er ist das Ergebnis neunstündiger Verhandlungen zwischen Angela Merkel und den 16 Länderchefs. Die Kanzlerin konnte dem Druck der Ministerpräsidenten - sie sind großteils für Infektionsschutz zuständig - und dem Wunsch vieler Bürger nach Öffnung nichts mehr entgegensetzen. Noch vor drei Wochen strichen Merkel und die Länderchefs angesichts der sich ausbreitenden britischen und südafrikanischen Corona-Mutationen eine Inzidenz von 50 vorerst als Richtwert für Öffnungsschritte. Erst bei nur 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in den vergangenen sieben Tagen sollte wieder gelockert werden. Davon ist seit Mittwochnacht keine Rede mehr, 50 ist wieder das neue 35.

35, 50, 100

Zwar wurde der Lockdown bis 28. März verlängert, jedoch zählen ab Montag kommender Woche neben der Grundversorgung wie Lebensmittelgeschäfte und Apotheken auch Buchhandlungen, Blumenläden und Gartenmärkte zum Einzelhandel des täglichen Bedarfs. Masseure und ähnliche sogenannte körpernahe Dienstleister dürfen ihre Tätigkeit ebenfalls wieder aufnehmen, Fahr- und Flugschüler unterrichtet werden.

Bei einer Inzidenz unter 50 sind auch Museen, Zoos und Gedenkstätten wieder zugänglich. Dies gilt jedoch auch, wenn die Inzidenz unter 100 liegt. In diesem Fall können die Bundesländer ebenfalls die Öffnung freigeben, allerdings nur unter den Voraussetzungen von Vorab-Terminbuchung und Dokumentation der Kontakte.

100 steigt somit generell zu einem neuen Grenzwert auf. Kanzlerin Merkel spricht von einer "Notbremse", ab der Lockerungen zurückgenommen werden.

Bei allen weiteren Öffnungsschritten wird jeweils in Inzidenzen unter 50 sowie zwischen 50 und 100 unterschieden. Frühestens ab 22. März werden Außenbereiche der Gastronomie geöffnet. Bei einer Inzidenz über 50 ist jedoch ein tagesaktueller Selbst- oder Schnelltest notwendig. Ebenso verhält es sich bei kontaktfreien Sportarten in der Halle und Kontaktsportarten im Außenbereich. Und der Öffnungsschritt am 5. April sieht Veranstaltungen bis zu 50 Personen im Freien vor - aber nur, falls die Inzidenz unter 50 liegt.

Klingt kompliziert? Zugutehalten könnte man dem Plan, dass Merkel und die Ministerpräsidenten der Bevölkerung eine detaillierte Übersicht für das laufende Monat geben, die verschiedenste Lebensbereiche aufschlüsselt. Und einwenden, das Infektionsgeschehen ist viel zu unberechenbar, derartige Pläne sind daher unseriös. Und mit so vielen wenn und dann verbunden, dass die Bürger völlig den Überblick verlieren. Von einem "Corona-Irrgarten" sprach der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, Dietmar Bartsch. "Heute haben wir ein Inzidenz- und Lockerungswirrwarr erlebt, der die Bürgerinnen und Bürger verunsichern wird."

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach fürchtet, die Beschlüsse "kommen fast gar nicht zum Tragen, weil die Inzidenz steigen und dann ab Anfang April spätestens über 100 liegen wird". Für den Professor für Epidemiologie macht der Stufenplan "erst nach Schnelltests Sinn".

Gratis-Tests erst ab kommender Woche

Doch gerade beim Testen hinkt Deutschland - auch im Vergleich zu Österreich - hinterher. Gesundheitsminister Jens Spahn hatte für Anfang März versprochen, dass sich Personen kostenlos von geschultem Personal mit Antigen-Schnelltests testen können. Merkel kassierte jedoch das noch nicht ausgereifte Vorhaben. Ab kommender Woche sollen die Bürger Anspruch auf einen kostenlosen Test pro Woche haben, vereinbarten nun die Kanzlerin und die Länderchefs. Dabei schlug das Gesundheitsministerium noch zu Wochenbeginn zwei Gratis-Tests vor. Ebenfalls auffällig: Erst jetzt wollen Bund und Länder eine gemeinsame Test-Arbeitsgruppe einrichten. Und Lauterbach zufolge sei die Teststrategie in Schulen und Betrieben unklar.

Auch beim Impfen läuft längst nicht alles nach Plan. Erst fünf Prozent der Deutschen erhielten die erste Dosis des Vakzins. Der in die Kritik geratene Gesundheitsminister Spahn schlägt vor, den Zeitraum zwischen Erst- und Zweitimpfung zu strecken, damit mehr Personen ihre erste Impfung erhalten können. Die Impfkapazitäten sollen von derzeit 200.000 auf 700.000 pro Tag bis Anfang April steigen. An Impfstoff mangelt es momentan nicht, er bleibt teils sogar liegen. Vor allem das Vakzin von AstraZeneca erweist sich als Ladenhüter. Deutschlands Ständige Impfkommission empfahl die Anwendung erst nur für unter 65-Jährige, am Donnerstag gab sie grünes Licht auch für ältere Personen. Zuvor sprachen sich mehrere Ministerpräsidenten für die Freigabe an alle Impfwilligen aus. Merkel kündigte nun ein "kluges Nachrückermanagement" beim Impfen an. Bloß rasch sollte das geschehen.