Samstag, 5. Dezember. Nach Monaten lähmender Verhandlungen ist es wieder Zeit für die höchste Ebene. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der britische Premierminister Boris Johnson führen ein Telefonat. Ergebnis: Sie sind sich einig, dass sie sich nicht einig sind. Es sind jetzt noch vier Wochen bis zum Ende der Übergangsfrist.

Sonntag, 6. Dezember. In Brüssel wird den ganzen Tag verhandelt. Spät am Abend zwei einander widersprechende Meldungen: Britische Medien berichten, dass es deutliche Fortschritte beim Thema Fischerei gegeben habe. Agenturen schreiben, von Durchbruch könne keine Rede sein: „Es ist nichts Neues erreicht worden.“

Montag, 7. Dezember. Um 7.30 Uhr früh werden die Botschafter der Mitgliedsländer über den Stand der Dinge informiert. Boris Johnson und Ursula von der Leyen führen abends wieder ein Telefongespräch, diesmal dauert es eineinhalb Stunden. Die Presseerklärung danach besteht aus wenigen Sätzen. Neuerlich kein Ergebnis. Aber etwas bewegt sich doch: Boris Johnson kündigt an, „in den kommenden Tagen“ nach Brüssel zu reisen.

Dienstag, 8. Dezember. Das britische Unterhaus hat in der Nacht die umstrittenen Passagen des Binnenmarktgesetzes wiederhergestellt. Jenes Gesetz, das Teile des Austrittsabkommens aushebeln und die Nordirland-Frage neu aufwerfen würde. Später am Tag wird bekannt, dass die umstrittenen Klauseln doch zurückgezogen werden – ein Zeichen?

Heute, Mittwoch, 9. Dezember. In Brüssel laufen die Vorbereitungen für den EU-Gipfel, der morgen und übermorgen als „physisches Treffen“ im Ratsgebäude stattfindet, auf Hochtouren. Boris Johnson kommt heute Abend, geplant ist ein Abendessen mit Ursula von der Leyen. Auf EU-Seite legt man ausdrücklich auf zwei Punkte Wert: Die EU lehnt die Verantwortung für ein Scheitern der Gespräche ab; man zeigt Verhandlungsbereitschaft bis zur letzten Sekunde – „wenn es sein muss, bis in die Silvesternacht“, so ein Diplomat. Und: Auch wenn der künstlich erzeugte Druck noch so groß ist, soll es kein Einknicken, kein Nachgeben, keinen faulen Kompromiss geben. „Wir unterschreiben jetzt sicher nichts, was wir in zehn Jahren bereuen“, sagt einer der Beteiligten. Die EU-27 demonstrieren Einigkeit und das EU-Parlament bleibt auf Kurs. Manfred Weber, Fraktionschef der EVP, drückt das so aus: „Mr. Prime Minister, willkommen in der Wirklichkeit.“ Das Parlament, eine entscheidende Hürde, werde eine Einigung in letzter Sekunde nicht einfach so durchwinken.

Für einen Deal ist es immer noch nicht zu spät

Doch kann es überhaupt noch so etwas wie eine Einigung geben? Alle offiziellen Fristen sind seit dieser Woche verstrichen – in der EU wäre es aber nicht das erste Mal, dass man sich im letzten Augenblick noch auf ein paar ungewöhnliche Winkelzüge verständigt.

Es spricht einiges dafür: So sind inzwischen mehr als 90 Prozent des Abkommens unter Dach und Fach, die entsprechenden Texte werden bereits in 23 EU-Sprachen übersetzt. Das ist aus juristischen Gründen eine Voraussetzung für jede Ratifizierung. Käme es bis Jahreswechsel auch in den ausstehenden Kapiteln noch zu einer Übereinkunft, müssten in diesem Fall die englischen Texte als Basis anerkannt werden – daran sollte es aber nicht scheitern.

Johnson hat sich selbst unter Druck gebracht, indem er zunächst das Angebot der EU, die Übergangsfrist zu verlängern, ausschlug und nun auch dabei bleibt, dass er, so oder so, nach Silvester nichts mehr nachverhandeln will. Er sieht sich in seinem eigenen Land zwischen den Hardlinern in seiner Partei, die auf Biegen und Brechen von der EU loskommen wollen, und einer wachsenden Zahl von Menschen, die aus einem Deal wenigstens so viel wie möglich herausholen wollen. Dabei ist der Alleingang angesichts globaler Probleme ohnedies Illusion, wie es Manfred Weber ausdrückt: „In der heutigen Welt gibt es keine nationale Souveränität. Auch nicht für große Länder in Europa. Wir leben in einer globalisierten Welt.“

Wenn Boris Johnson in Brüssel ist, bekommt er noch einmal die große Bühne – auch das wird als Zeichen gewertet, dass eine Einigung in Reichweite ist. Das Vereinigte Königreich hat mittlerweile 55 Handelsverträge mit Staaten außerhalb der EU geschlossen, gestern noch rasch mit Kenia. Doch das sind Nebenschauplätze im Vergleich zur EU als Handelspartner. Die britischen Warenexporte in die EU machen 47 Prozent der Gesamtausfuhren aus. Umgekehrt sind es für die EU-Länder nur acht Prozent. Nach einer Studie des Forschungszentrums „The UK in a Changing Europe“ könnte ein Austritt ohne Abkommen langfristig fast drei Mal so teuer für die britische Wirtschaft werden wie die Folgen der Corona-Pandemie. Die EU verweist indessen trocken auf ihren „Plan B“: ein umfangreiches Aktionspaket für den Fall, dass es beim „No Deal“ bleibt.

So oft hatte es in diesem Jahr geheißen, die Austrittsverhandlungen seien in einer „entscheidenden Phase“, und ebenso oft war es danach weitergegangen. Doch der Gipfel diese Woche setzt den Schlussakkord: Die Zeit ist nun wirklich (fast) um.